Vampirsaga 02 - Honigblut
Flucht.
Xylos atmete zitternd ein. Der Geruch des Todes und das Versprechen bald einsetzender Verwesung schwangen in diesem einen Atemzug mit. Erbrochenes, Medikamente, Urin und Tränen. Die ausgestandenen Qualen, die wie eine farbliche Erinnerung in der Luft hingen und sich mit den Eindrücken und Gerüchen mischten, setzten verblasste Gedankenfragmente in Xylos frei. Dinge, an die er nicht denken wollte, an die er seit Jahrhunderten nicht mehr gedacht hatte, und die ihn an Folter und Tod erinnerten.
„Xylos, bitte!“ Das Flehen riss Xylos aus seiner Lähmung. Jennifer Schreiner Honigblut
„Magnus?“ Er bog um die Ecke, hinter der das Zimmer liegen musste, in welchem er schon von außen Magnus Anwesenheit gespürt hatte.
Leer. Erst dann fiel Xylos Blick auf den Boden, und mit einer einzigen Bewegung kniete er neben dem alten Vampir nieder. Seinem stolzen Freund, der niedergestreckt auf dem Boden lag und sich vor Schmerzen krümmte.
Voller Schrecken begriff Xylos, was das Verfärben der Aura wirklich bedeutete. Magnus starb! Unwiderruflich!
„Welche Macht …was …wer?“ Jeder seiner Gedanken richtete sich darauf, einen Täter zu fassen und Rache zu üben.
„Scht ...“, der Zeigefinger des Magnus legte sich auf Xylos Lippen, und der Callboy erkannte die Wahrheit. Verwirrt versuchte er sie mit seinem Verstand in Einklang zu bringen: Magnus war ein Mensch. Woran stirbt er?
„Gift!“, meinte Magnus, als hätte Xylos die Frage laut gestellt. Er klang so determiniert, dass es beinahe zum Lachen gewesen wäre.
„Aber warum …?“ Xylos konnte es nicht fassen. Konnte nicht fassen, dass ein Vampir freiwillig auf die Unsterblichkeit und die Macht verzichtete, nur um sich selbst umzubringen.
„Glaub mir! Hätte ich um die Schmerzen gewusst, hätte ich mir was Besseres ausgedacht!“ Magnus hustete, als ein Lachen aus seiner Kehle entkommen wollte.
Xylos schwieg, versuchte das Gehörte zu verdauen und sah sich in der Wohnung um. Er fand eine Tote im Bett liegend. Eine Frau, die zweifellos von großer Schönheit gewesen sein musste. Sie war älter als er sie bevorzugte und schien keinen einfachen Tod gehabt zu haben. Der Geruch von Medikamenten bezeugte, dass sie wie eine Löwin um ihr Leben und eine Zukunft gekämpft haben musste.
„Krebs!“, meinte Magnus. In Xylos Augen traten Tränen. Magnus starb für sie? Für diese Frau, weil er sie nicht hatte retten können?
„Ich verstehe nicht …“, … wie man für eine Frau sterben kann. Wie man für sie alles aufgibt. Wie man ohne sie nicht leben kann.
„Das wirst du irgendwann!“ Ein Lächeln schlich sich auf Magnus Züge. Magnus, der stets weit voraus plante und Dinge wusste, die anderen verborgen blieben.
„Ich habe ihr angeboten, sie zu einem Vampir zu machen, aber sie wollte nicht.“ Der Blick, den Magnus seiner toten Frau zuwarf, war voll Zärtlichkeit.
„Und deine Tochter?“
Magnus wirkte kurz überrascht, dann verzogen sich seine Gesichtszüge vor Qual. Sein ganzer Körper schien zu kontraktieren, die Muskeln ihm nicht mehr zu gehorchen.
Xylos konnte hören, wie das sterbliche Herz den Takt änderte, unregelmäßiger wurde.
„Schlüssel!“, das Wort war kaum noch zu hören. Magnus hustete abermals, versuchte seine Lunge zur Arbeit zu zwingen, noch einige Sekunden des Lebens herauszuschlagen. „Für Sofia! Nur Sofia!“
Seine Gesichtszüge entglitten, verloren jegliche Spannung, ein Beben durchlief seinen Körper, als alle Muskeln nacheinander erschlafften und ihre Tätigkeit einstellten. Jennifer Schreiner Honigblut
KAPITEL 9
Xylos wusste, dass er eine Schwelle übertrat. Die von einem frauenfeindlichen Arsch zu einem Mann, der einem Freund gegenüber wortbrüchig wurde.
Doch er tröstete sich mit dem Gedanken, von Neugierde getrieben zu sein und nicht von Bosheit. Außerdem hatte Magnus ihm den Schlüssel anvertraut – seine letzte Handlung auf Erden – und wenn einer wusste, wie es um Xylos wirkliches Wesen, seinen Charakter, bestellt war, dann Magnus.
Der ehemalige Vampir musste einkalkuliert, sogar damit gerechnet haben, dass die Aufforderung, den Schlüssel nur Sofia – ausdrücklich nur Sofia – zu geben, Xylos Interesse wecken würde. Was verbirgt ein Freund vor mir? Welche letzte Tat hat er ausgeheckt? Xylos lauschte in sich hinein, fand jedoch keine Antwort.
Im Zimmer konnte er eine menschliche Aura spüren, schwach und undeutlich, mit
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