Vampirsaga 02 - Honigblut
er die Luft nicht mehr benötigte, gab ihm diese kleine Geste der Menschlichkeit das Gefühl dazuzugehören und wieder am Leben teilzunehmen.
Und der Geruch! Wie sehr er ihn liebte! Selbst mit verbundenen Augen hätte er gewusst, wo er sich befand – zumindest ungefähr.
Irgendwo im Ruhrgebiet, inmitten einer Metropole, die vorgab, aus vielen verschiedenen Städten zu bestehen, und die doch eins war. Eine Metropole, deren Menschen zwischen den Städten hin und her eilten, ohne die Grenzen zu beachten. Zum Einkaufen nach Oberhausen, nach Gelsenkirchen in den Zoo und ins Kino nach Essen, um anschließend nach Dortmund zu fahren, weil eine Kulturveranstaltung dort lockte.
Theater, Kino, Zentren, es war die freie Auswahl und für jeden Geschmack war etwas dabei. Bottrop mit seinem Tetraeder, Bochum mit seinem Bergbaumuseum oder Herne mit einer hübschen Einkaufsstraße.
Xylos war einen weiten Weg gegangen, bis er im Ruhrgebiet gelandet war. Wortwörtlich. Von seiner ehemaligen Heimat hatte er sich nach seinem Tod getrennt, alle Brücken abgebrochen und war nie wieder zurückgegangen. Erst Jahrhunderte später hatte er einen neuen Ort gefunden, seine Entstehung miterlebt, von den schmutzigen Kohlestädten, über den Zerfall und die Arbeitslosigkeit, Verzweiflung und jetzt die langsame Wiederauferstehung wie der Phönix aus der Asche.
Mehr als einmal hatte er sich auf seinem kurzen Weg von Rom nach Gelsenkirchen gefragt, ob es so einfach sein konnte, ob Magnus tatsächlich einen Ort aufgesucht haben konnte, den er, Xylos, liebte.
„Xylos!“, die Begrüßung riss ihn aus seinen Gedanken und in die Realität. Insgeheim fluchend drehte er sich zu dem Neuankömmling um.
Aus alter Gewohnheit heraus war er selber nicht wie geplant in der Nähe von Magnus Wohnung gelandet, sondern auf dem Areal der Arena in Schalke. Trotz der Kürze des Weges und der frühen Stunde fühlte er sich bereits ausgelaugt und müde – die ersten Nachteile des geleisteten Schwures.
„Bist du zum Spiel gekommen?“
„Nein!“, behauptete Xylos, obwohl seine Neugierde geweckt war. Er sah auf die Uhr und überlegte, ob er sich einige Minuten Freizeit gönnen konnte. „Wer spielt denn?“
„Was bist du denn für ein Fan?“, lachte der andere Vampir. „Du bist ja gar nicht auf dem Laufenden!“
„Die Saison hat noch nicht angefangen!“, verteidigte sich Xylos.
„Freundschaftsspiel: Unsere Blau-Weißen gegen die anderen Blau-Weißen.“
„Schalke?“ Schon als er es aussprach, sah er seinen Fehler im Gesicht des anderen, der zu lachen begann.
„Bochum.“
Na klar! Die Gelsenkirchener Vampire gegen die Bochumer. Erste Vampirliga. „Ich dachte, die sind abgestiegen?!“, neckte der Callboy und überspielte seine Mattigkeit.
„Nur in deinem Traum, Xylos! Nur in deinem Traum!“ Der andere wedelte mit seinem blau-weißen Schal, der große Ähnlichkeit mit denen der menschlichen BochumFans hatte. Jennifer Schreiner Honigblut
„Alte Gewohnheiten sterben eben nicht!“, meinte Xylos und fügte hinzu: „Würde gerne bleiben und zusehen wie ihr verliert, aber ich muss was erledigen!“
Der andere Vampir hob nur die Hand zum Abschied und entließ den Callboy, der sich umdrehte, um in die Nacht zu gehen. Xylos war sich nicht sicher, ob er einen weiteren Flug verkraften würde, ob es ihm überhaupt gelingen würde, sich genügend zu konzentrieren.
Immer wieder hatte er das Gefühl, in der Luft Witterung von Sex aufzunehmen, erleichterte Seufzer und liebevolle Worte zu hören. Halluzinationen! – Jetzt schon! Als er glaubte, einen ruhigen Ort gefunden zu haben, der ihn vor den Blicken der Vampirfans schützte, so dass er seinen Fehler korrigieren und Magnus Wohnung ansteuern konnte, spürte er eine Präsenz, die keinen menschlichen oder tierischen Ursprung haben konnte.
Sie war so ruhig, dass er sie und ihren Standort nicht ausmachen konnte. Kalkulierend und beinahe so tot wie der Vampir, zu dem sie gehören musste.
Nemesis!, war Xylos’ erster Gedanke, als sich seine Zähne verlängerten.
Doch es konnte unmöglich der abtrünnige Vampir sein. Nicht nur, dass Xylos Nemesis‘ Aura kannte, und Nemesis war auch nicht ruhig. Niemand, den er kannte, war so ruhig. Wer auch immer in seiner Nähe war, er schien das perfekte Zen eines Soziopathen erreicht zu haben, den nichts mehr berührte.
Als der Callboy die Schritte hinter sich hörte, ging er in Kampfbereitschaft.
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