Vampirzorn
aber wenn sie es unbedingt wollen, kann man sie nicht aufhalten.« Damit erwachte seine Säge sirrend zum Leben.
Am Tisch nickte Ragusa dazu, schenkte sich ein Glas Wein ein und erhob dann seine Stimme: »Ja, ich hatte schon fast vergessen, dass das Leben in ihnen nicht halb so stark brennt wie der Untod in uns.«
»Ja«, erwiderte McGowan, »nicht halb so stark. Und manchmal ist es wahrscheinlich einfach nicht der Mühe wert, es am Lodern zu halten.« Seine Worte mochten zwar »sentimental« klingen, doch schwang in ihnen keinerlei Reue, Mitleid oder sonst ein Gefühl mit.
Mit einem Mal wurde das Sirren der Säge zu einem Kreischen. Ragusa saß am Tisch, und obwohl er McGowan nicht gerade mochte, musste er doch zugeben, dass der kleine Mann Stil hatte. Und durchaus großzügig war ...
Ragusa sah in McGowan zwar immer noch einen kümmerlichen Wicht, aber nicht mehr unbedingt das Landei, für das er ihn gehalten hatte. All die Jahre, die er auf sich allein gestellt arbeiten musste, hatten ihn unabhängig gemacht. Vielleicht ein bisschen zu unabhängig für den Francezci, wenn er diesem wiederbegegnete! Er legte eine Autorität und ein Selbstbewusstsein an den Tag, die einem Wamphyri weit besser zu Gesicht standen.
Wie der Sizilianer so in McGowans altem Käfer saß, kam ihm der Gedanke, dass es vielleicht daran lag. Dies war es, was ihm an dem kleinen Mann so missfiel: sein Wissen und seine Autorität. Womöglich war McGowan schon viel zu lange der »Stellvertreter« der Francezcis in diesen Breiten, womöglich war er schon viel zu lange auf sich allein gestellt. Und irgendwann (war dies wirklich möglich?) hatte er schließlich angefangen, sich selbst als den ersten Mann zu sehen. Er war kein einfacher Knecht mehr, dieser McGowan, und auch kein schlichter Leutnant. Doch sollte so ein verhutzeltes altes Männchen tatsächlich ein Wamphyri sein? Das schien absurd. Hegte McGowan etwa Ambitionen? War es gar möglich, dass er den Aufstieg schaffte?
»Das da vorne ist Inverdruie«, knurrte McGowan, indem er seinen wässrigen Blick auf seinen Beifahrer richtete. »Oh, was machst du denn für ein Gesicht?«
»Dieser Wagen«, erwiderte Ragusa. Allerdings gab er damit nur einen Teil dessen, was er dachte, preis. »Wie soll irgendjemand glauben, ich sei ein Filmboss, wenn ich in so einer Mistkarre herumfahre? Bei uns daheim in Sizilien kommt so ein Dreck auf den Schrottplatz!«
»Hey, wir sind dabei, die Lage zu peilen«, entgegnete McGowan. »Eine Erkundungsfahrt sozusagen. Ich zeige dir, was ich herausgefunden habe, damit du, sollte mir irgendetwas zustoßen, Bescheid weißt. Aber das habe ich dir doch schon erklärt. Oder hast du es vielleicht nicht verstanden, he?«
»Es ist ein Wunder, dass ich überhaupt etwas verstehe!«, meinte Ragusa verdrossen. »Weshalb«, fügte er mit einem sarkastischen Grinsen hinzu, »müsst ihr Engländer eigentlich immer so undeutlich sprechen?«
Missmutig verzog McGowan das Gesicht. »Aye, Bürschchen, ich bin aber kein Engländer. Und wenn du etwas im Hirn hättest, dann hättest du das auch längst kapiert!«
Es war früh am Morgen, und noch herrschte nur leichter Verkehr. Junge Sportfanatiker, die in den umliegenden Dörfern und Städten Urlaub machten, hatten sich bereits aus ihren Betten gewühlt, die Skier aufs Dach geschnallt und waren nun unterwegs zu den Pisten von Aviemore.
»Wenn du noch einmal ›Bürschchen‹ zu mir sagst ...!« Ragusa bleckte die Lippen und entblößte dabei ein Paar gebogene, scharfe Eckzähne.
Kaum hatte er das gesagt, schien McGowan in seinem Sitz zu wachsen. Er riss das Lenkrad herum und hielt mit dem Käfer geradewegs auf einen entgegenkommenden Wagen zu! Dazu bedurfte es keiner großen Mühe; die Landstraße war so schmal, dass zwei Fahrzeuge eben so aneinander vorbeipassten, und der zu beiden Seiten aufgehäufte Schnee war zu einem soliden Wall gefroren. Ragusa klappte der Kiefer nach unten. »Was, zum ...?«, stieß er hervor und hob schützend die Hand vors Gesicht.
Im letzten Augenblick riss McGowan abermals das Lenkrad herum, machte einen Schlenker nach links und scherte durch eine Öffnung in der Schneewand in einen Feldweg ein. Er brachte den Käfer zum Stehen, und jenseits des Schneewalls schoss der andere Wagen an ihnen vorbei. Ragusa bekam gerade noch mit, wie der Fahrer durchs offene Fenster wütend die Faust schüttelte. Dann waren die Skifahrer auch schon in einer sich allmählich verziehenden blauen Abgaswolke verschwunden
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