Vampirzorn
Autoschlüssel!«
Bonnie Jean rauschte zu den Mädchen hinaus, die in der Diele herumstanden und sich mit Margaret unterhielten ... Ein kurzer Wortwechsel, es klang überrascht und erschrocken, dann wurde die kleine, zierliche und doch so erbarmungslose Sandra Mohrag mit dem rabenschwarzen Haar von B. J. regelrecht mitgerissen und folgte ihr beinahe im Laufschritt die Treppe hinab zum Hinterausgang des Gasthauses.
Harry stand immer noch am Fenster und blickte hinaus auf den Wagen draußen in der Düsternis und die sich dunkel darin abzeichnenden Gestalten. Mit einem Mal war er völlig allein und hatte nicht die geringste Ahnung, was er tun oder ob er überhaupt etwas tun sollte. Darum traf ihn beinahe der Schlag, als in seinem Kopf eine Stimme erscholl:
Es sind Feinde, Harry! , sagte eine Totenstimme eindringlich. Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen, Necroscope! Es war R. L. Stevenson Jamieson, und die instinktive Reaktion des Necroscopen bestand darin, seine mentale Abschirmung, die er ganz vergessen hatte, wieder zu errichten ... Das wollte er auch tun, doch zunächst musste er eines wissen:
»Wie viele sind es, R. L.? Und was für Feinde?«
Was für Feinde? Du kennst sie doch, Mann! , erwiderte R. L. Dieselben wie immer. Nur dass sie jetzt zu fünft sind und nicht mehr zu sechst.
Drakuls, Tibeter in roten Gewändern, allerdings keineswegs Priester, jedenfalls keiner sauberen, anständigen Religion. Doch irgendetwas stimmte nicht ganz. Zu fünft? Dürften es nicht bloß vier sein?
Vier von ihnen erkenne ich wieder, sagte R. L. Na ja, meine Obeah-Kräfte. Aber der Fünfte ist neu dazugekommen. Ihr neuer Boss vielleicht? Egal, jedenfalls sind es fünf, darauf kannst du Gift nehmen. Yeah!
Was spielt es schon für eine Rolle, wie viele es sind? , dachte Harry. Das einzig Wichtige war, dass es sich um Gegner handelte. Und hatte B. J. nicht etwas gesagt ... irgendetwas über Zahanine? Und einen dunklen Fleck auf den Dielen in seinem Arbeitszimmer?
Doch Bonnie Jean hatte es so eilig gehabt, dass sie keinerlei Anweisungen für Harry hinterließ! Ja, B. J. hatte es furchtbar eilig gehabt. Und der Ausdruck auf ihrem Gesicht ...
... Dem Necroscopen war klar, was dieser Ausdruck zu bedeuten hatte. Und mit einem Mal überkam auch ihn ein Gefühl äußerster Dringlichkeit.
Da draußen in der finsteren Winternacht warteten fünf Ungeheuer. Und Bonnie Jean Mirlu hatte nichts als Rache im Kopf und war wild entschlossen hinausgestürzt, um sich ihnen entgegenzustellen ...
TEIL VIER: FREUNDE TIEF UNTEN
ERSTES KAPITEL
B. J.: NOCH IMMER UNSCHULDIG? – DAS ENDE DER REALITÄT – EINE ERNSTE LÖSUNG.
Der Necroscope stand immer noch am Fenster, allein in dem Zimmer des Gasthofes. Ihm war schwindlig, geradezu übel, und er musste sich am Fensterbrett festhalten. Seine Knie waren weich wie Butter. Er wollte etwas tun – irgendetwas –, hatte aber keinen Befehl dazu und wusste auch nicht, was.
Doch, er wusste, was zu tun war, und musste es tun! Das Letzte, was er wollte, war, dass jetzt eins von B. J.’s Mädchen ins Zimmer kam – nicht, wenn er einfach plötzlich verschwinden musste!
Er ging – schwebte beinahe, fast ohne eigenen Willen – zur Tür und schloss ab. Anschließend ging er zurück ans Fenster. Bonnie Jean und Sandra Mohrag waren da draußen, unterwegs zu Sandras Auto. B. J. war also nicht allein, Sandra würde sie begleiten. Aber wohin? Außerdem waren die Drakuls ebenfalls da draußen ... bloße Umrisse in dem düsteren Wagen.
Mit einem Mal kehrte die Kraft in Harrys Beine zurück, in seinen Körper, ja, sogar in seinen Geist. Die Verzweiflung verlieh ihm eine ungeahnte Stärke. Selbst wenn das, was er vorhatte, keinen Sinn ergab (was ergab schon einen Sinn in seiner sinnlosen Welt, wo jetzt, in diesem Augenblick, seine unterschiedlichen Bewusstseinsebenen zu einem Kurzschluss drängten und schon längst miteinander verschmolzen wären, hätte er nicht viel zu viel Angst davor?), aber wenigstens würde er – je nachdem, was B. J. gerade unternahm – etwas tun.
Im Augenblick lief, nein, rannte sie beinahe mit Sandra über die vereiste Fahrbahn der Zufahrtsstraße auf den kleinen Parkplatz des Gasthauses zu, und Sandra schien zu ... was, lachte sie etwa? ... während sie in ihrer Handtasche nach den Schlüsseln kramte. Die beiden hatten keine Jacken übergezogen, obwohl draußen Minusgrade herrschten. Harry sah, dass B. J. der Allee mit den kahlen Bäumen, in der die Hecken lange Schatten warfen,
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