Vampirzorn
das Gleichgewicht so empfindlich ist, war ich in der Lage, noch ein bisschen mehr zu tun.
Und was genau? , wollte Sir Keenan wissen.
Es gibt gewisse ... Auslösemechanismen, erklärte Mesmer. Schlüsselwörter, die ihre Wirkung entfalten, wenn Harry sie aus B. J.’s Mund hört. Zumindest entfalteten sie ihre Wirkung, aber das ist nun vorbei. Wenn B. J. ihm jetzt etwas erzählt, was nicht der Wahrheit entspricht, wird er es merken. Und sollte sie ihm etwas befehlen, was er normalerweise nicht tun würde, wird er ihr nicht gehorchen, und falls doch, dann aus freiem Willen.
Heißt das, er ist wieder sein eigener Herr? Mary Keoghs Totenstimme klang ziemlich erleichtert.
Ja und nein ..., erwiderte Mesmer zögernd. Ich sagte doch, dass mehr als nur eine Person in Harrys Geist herumgepfuscht hat ...
... Ich wusste es! , schrie Harrys Mutter auf. Ich habe es die ganze Zeit über gewusst!
Und wer auch immer dieser andere war ... (Ein verblüfftes, körperloses Kopfschütteln.) Seine Befehle sind so tief verwurzelt, dass ich sie einfach nicht erreichen kann. Sie sind fest verschlossen und wurden niemals gelockert, sie sind so sehr mit Harry verschmolzen, dass sie beinahe ein Teil von ihm sind.
Wissen Sie, was für Befehle das sind? Sir Keenan klang misstrauisch; die anderen konnten sein Stirnrunzeln regelrecht spüren, obwohl sein Gesicht schon vor langer Zeit zu Asche verbrannt war. Haben sie irgendeine Ahnung, was ihn so sehr einschränkt?
Nein, ich konnte nicht hingelangen, musste Mesmer einräumen. Sobald ich es versuchte ... verschloss Harrys Geist sich nur umso fester!
Na ja, sagte Harrys Mutter nach ein paar Sekunden, Sie haben getan, was in Ihrer Macht stand, und dafür danke ich Ihnen.
Da ist noch etwas, fuhr Mesmer fort. Ich habe ihm eine Idee eingepflanzt, und zwar eine, über die wir bereits sprachen: nämlich dass er über seine Vergangenheit nachdenken und versuchen soll, sich zu erinnern, wann alles anfing schiefzulaufen. Auf diese Art gelingt es ihm vielleicht doch noch herauszufinden, wer dafür verantwortlich ist. Zumindest könnte er dem Betreffenden auf die Schliche kommen oder sogar einen Verdacht entwickeln.
Und was tun wir jetzt? (Dies war erneut Sir Keenan.)
Mesmer zuckte die Achseln. Im Moment bleibt uns nichts anderes übrig, als abzuwarten.
Das Gespräch verstummte, und während ihre metaphysischen Gedanken sich wieder dem jeweils eigenen Grab zuwandten, fragte Mary Keogh sich, weshalb Sir Keenan Gormley, der einstige Chef des E-Dezernats, mit einem Mal so still und nachdenklich, ja, geradezu verschlossen wirkte ...
Drei Tage? Harry kamen sie eher wie drei Wochen vor! Seine Knie waren weich wie Butter, so als habe er eine gewaltige Anstrengung hinter sich. Er erinnerte sich an seinen Besuch bei Franz Anton Mesmer, das Gespräch auf dem Friedhof von Meersburg, allerdings nur bis zu einem gewissen Punkt ... und danach an nichts mehr. Höchstens noch an Bruchstücke eines Traumes, den er im Krankenhaus gehabt hatte. Aber das war auch schon alles.
Vielleicht war sein Besuch ein Fehlschlag gewesen, vielleicht auch nicht. In seinem Kopf war alles so durcheinander wie eh und je – auf sein Erinnerungsvermögen traf dies auf jeden Fall zu –, allerdings schien er sich jetzt besser konzentrieren zu können, fast so, als habe ihm jemand mit einem Drahtbesen den Rost vom Gehirn geschrubbt. Mesmer? Nun, schon möglich.
Es war spät am Vormittag, und er befand sich in Schottland. Aber drei Tage! Bei Gott! Harry war so hungrig, er hätte einen ausgewachsenen Bären fressen können. Er warf das Krankenhaus-Nachthemd in die Wäsche, ebenso das Bündel schmutziger, zerknitterter Kleider, das er mitgebracht hatte, duschte und zog frische Sachen an. Da er sich noch immer nicht traute, seine Fähigkeiten allzu offen einzusetzen, fuhr er – trotz des Schwindelgefühls, das aller Wahrscheinlichkeit nach vom Hunger herrührte – nach Bonnyrigg, um Lebensmittel einzukaufen ... Anschließend suchte er einen Haushaltswarenladen auf und erstand mehrere Liter Fleckentferner und einen neuen Besen. Ihm war zwar klar, wozu er diese Dinge brauchte, wollte aber nicht darüber nachdenken.
Wieder zu Hause, bereitete er sich, noch immer ganz wackelig, ein gewaltiges Frühstück, bestehend aus Schinken, Eiern, Würstchen und geröstetem Brot. Das Ganze spülte er mit einem Becher gesüßten Kaffee hinunter. Beim Essen kamen ihm ein paar Gedanken, die ihm nicht mehr aus dem Kopf gehen wollten. Sie fraßen sich in
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