Vampirzorn
sein Inneres wie ein Abbeizmittel in den Fußboden seines Arbeitszimmers.
Und ebendies tat er, als diese Gedanken Kontur gewannen: Er rückte Möbel, machte den Boden frei, goss den Fleckentferner direkt aus dem Kanister darauf und verteilte das Zeug mit dem Besen. Es klappte wie am Schnürchen, stank allerdings fürchterlich – in nächster Zeit zündete er hier besser kein Streichholz an! Und aufhalten konnte man sich hier auch nicht.
Als er fertig war, schloss er die Tür gegen den Gestank, kletterte in der Diele über Bücherstapel und Berge von Möbeln und kehrte zurück in die Küche, um sich noch einen Kaffee zu holen, den er im Wohnzimmer trank, wo er den Ideen nachhing, die ihm gekommen waren; oder vielmehr der Idee, denn eigentlich war es nur eine, und sie stammte auch nicht von ihm, sondern gleich aus zwei Quellen, an die er sich entsann.
Nämlich von Sir Keenan Gormley und Franz Anton Mesmer. Ersterer hatte vorgeschlagen, Harry solle in Gedanken zurückgehen und versuchen, sich daran zu erinnern, wann alles anfing schiefzulaufen. Und Letzterer ... doch alles, was mit Mesmer zusammenhing, blieb in seiner Erinnerung nur verschwommen. Hatte er vielleicht einen ähnlichen Vorschlag gemacht? Dem Necroscopen war, als erinnere er sich an etwas in dieser Art ...
Nun, wo Harry wieder zu Hause war, ließ seine Anspannung (obwohl er nun auch mit seinem Heim etwas Düsteres in Verbindung brachte) ein bisschen nach. Er hatte gegessen und war fürs Erste sicher vor irgendwelchen »Feinden«, die er und B. J. hatten. Und da B. J. sich nicht bei ihm befand, konnte er auch nicht ihrem Einfluss erliegen. Also entschloss er sich zu einem letzten Versuch, in die Vergangenheit zurückzukehren, um herauszufinden, was für seinen jetzigen Zustand verantwortlich war.
Zunächst jedoch gab es noch etwas Wichtigeres. Sein Besuch bei Mesmer hatte sich – nun ja, wahrscheinlich – als Fehlschlag erwiesen, aber da war immer noch jene andere Vision, die er in der Zentrale des E-Dezernats gehabt hatte. Und da auch sie nun ein Teil seiner Vergangenheit war, begann er, indem er sich jenes ach-so-rätselhafte Gesicht wieder in Erinnerung rief: Jenes freundliche, weise Antlitz – das freundliche Gesicht eines Mannes mit grauen Augen, deren Höhlen in den Rücken einer gerade geschnittenen, ebenmäßigen Nase übergingen, unter der die Enden eines Schnurrbarts bis auf die Mundwinkel herabhingen. Es war ein kleiner, allerdings keineswegs kleinlich wirkender Mund. Der Mann hatte ein hohe, offene Stirn und gerötete Wangen, leicht abstehende Ohren und Koteletten, die sich bis zu einem vollen, goldbraunen Kinnbart erstreckten. Und erst seine Augen – sie blickten streng und doch lächelten sie zugleich! Aus ihnen strahlten Harry nicht nur Disziplin, sondern auch ein hohes Maß an Menschlichkeit und ein glühender Mystizismus entgegen.
Harry entsann sich an seine Stimme, die so weise klang, und in diesem Moment wurde ihm klar, dass es sich um eine Totenstimme gehandelt hatte. Sie war aus einem Grab zu ihm gedrungen; wer konnte dies besser beurteilen als der Necroscope? Und dann, ganz plötzlich, das Ende des Gesprächs: »Fort mit dir, deine Zeit ist noch nicht gekommen!«
Nun, vielleicht war es ja jetzt so weit. Die geistige Abschirmung des Necroscopen war aktiv. Obwohl es für ihn nach wie vor eine ungeheure Anspannung bedeutete, ließ er seinen Schutzschild sinken, um Kontakt aufzunehmen.
Jetzt fängst du also endlich an, den Ursprung deiner Schwierigkeiten in der Vergangenheit zu suchen? (Es war die gleiche Stimme, doch nun schwang ein trockener Humor darin mit.) Was hoffst du, dort vorzufinden, Necroscope? Was geschehen ist, ist geschehen. Ah, aber wenn du etwas über die Zukunft erfahren möchtest – dann komm’ doch zu mir nach Salon. Aber schiebe es nicht zu lange hinaus, denn ich muss so viele Blicke in so viele Zeiten werfen.
»Nach Salon?«, wiederholte Harry die Worte seines bislang noch unbekannten Gegenübers laut. »Selbstverständlich werde ich kommen« – nun, dazu musste er erst einmal wissen, wo Salon überhaupt lag – »aber nach wem soll ich dort fragen?«
Nach Michel de Nostredame, erscholl die Antwort, die Harry sprachlos zurückließ. Du findest mich in der Kirche, aber komme noch heute Abend ...
Also noch einmal mit dem Fahrrad ins Dorf, diesmal um in die kleine, dafür jedoch gut bestückte Bücherei zu gelangen. Er trat wie ein Verrückter in die Pedale. Harry nahm das Rad, weil er nicht vorhatte,
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