Vampirzorn

Koppel zu öffnen und den Riemen über seiner Schulter zu lösen. »Und über Radu, die Drakuls und die Ferenczys?« Sie nahm das Koppel und warf es mitsamt den Sprengsätzen hinter sich auf den Boden. »Nein, natürlich nicht ... weil ich dir nämlich befahl, alles wieder zu vergessen, bis wir bereit wären, uns Radus Feinden entgegenzustellen. Nun, jetzt sind wir dazu bereit. Allerdings zählt der Hunde-Lord jetzt auch zu ihnen, zu unseren, meinen Feinden! Falls du nicht schon längst dahintergekommen bist, darfst du dich jetzt daran erinnern, was die Drakuls bei dir zu Hause in Bonnyrigg Zahanine angetan haben: wahrscheinlich ein Racheakt für die beiden, die wir im Tal des Spey töteten. Und daran darfst du dich ebenfalls erinnern: wie sie in ihrem brennenden Wagen umkamen. Und auch an das, was ich dir über die Geschichte der Ferenczys, Lykans und Drakuls erzählte. Und Brenda – deine Suche nach ihr? Das ist nie geschehen, Harry. All die Orte, an die du dich erinnerst – du bist niemals dort gewesen. Das sind Erinnerungen, die ich dir eingepflanzt habe, weil ich dich für mich selbst wollte. Und jetzt sage ich dir das alles und verliere dich damit. Also, was auch immer du sonst tun magst, frag’ mich nie mehr, ob ich dich verdammt noch mal liebe!«
    »B. J., wir sind fertig!«, rief Sandra von draußen.
    »So, und jetzt weißt du alles«, fuhr B. J. fort. »Und vergiss nichts davon, Harry, hörst du, nichts! Setze alles zusammen und ziehe deine Schlüsse daraus. Und wenn du schließlich weißt, wovor du wegläufst – falls du dann noch in der Lage bist zu laufen –, dann laufe, wenn du aufwachst, laufe, lauf! «
    Er schaukelte vor und zurück, vor und zurück, seine Augen waren groß und rund, seine Miene bleich und ausdruckslos.
    Schluchzend trat B. J. hinter ihn und griff nach der an der Wand lehnenden Schrotflinte. Sie hatte einen Entschluss gefasst und musste ihn nun ausführen, ehe sie es sich anders überlegte. Radus Geheimnisvoller, sein ›Mann-mit-den-zwei-Gesichtern‹, Harry Keogh? Nun, scheiß auf Radu, diesen heuchlerischen, betrügerischen Bastard! Und ganz gleich, ob Harry hier nun dabei sein wollte oder nicht – ob er in der Lage dazu sein würde oder nicht – jetzt war es zu spät dafür. Er würde nirgendwohin gehen, jedenfalls nicht in den nächsten Stunden. Und wenn er dann schließlich aufwachte, würde er wenigstens wissen, dass sie ihn wirklich geliebt hatte.
    Als der Schaukelstuhl wieder nach vorn glitt, biss sie die Zähne zusammen und schmetterte Harry den Kolben der Flinte mit voller Wucht gegen den Hinterkopf. Er wurde vorwärtsgeschleudert und sackte auf dem Fußboden zusammen ...

ZWEITES KAPITEL
    KEINE EINSCHRÄNKUNGEN MEHR.
    DER WAHRE HARRY KEOGH.
    Der Alte John befand sich auf dem Rückweg, allein auf der leichten Route, und nun musste er keine Rücksicht mehr auf irgendwelche Anfänger nehmen. Was die beiden betraf, die er hierhergeführt hatte: Nun, sie waren für wert befunden und akzeptiert worden. Am besten, er verschwendete keinen weiteren Gedanken mehr an sie. Und weil der Alte John diesmal nicht gezwungen gewesen war, sein eigenes Blut zu opfern, kam er schneller voran als sonst; und das war auch gut so, denn er hatte eine Aufgabe zu erledigen.
    Während er in weit ausgreifenden Sätzen den nahezu unsichtbaren, ihm jedoch gut bekannten Pfad entlangtrabte, der hinunter zu dem geheimen Plateau und dem Waldstück führte und danach weiter die Klippe hinab, dachte er an das, was Radu Lykan ihm bei seiner Rückkehr zum Sarkophag aufgetragen hatte ...
    Die Fackeln am Fuß des Hochaltars hatten nur noch geflackert, und von Garth Trevalin war nichts zu sehen gewesen. Einen Augenblick lang war John beunruhigt darüber – doch dann vernahm er in seinem Geist die Stimme seines Gebieters ...
    ... und brauchte eine Sekunde, bis er erkannte, dass die Stimme gar nicht in seinem Kopf, sondern in seinen Ohren erklang!
    »John – ah, John, mein Getreuer!« Ein leises Knurren, eher ein Grollen; welch eine Macht in dieser Stimme lag! Aber ... schwang nicht auch noch etwas anderes darin mit? Ein tiefer Schmerz, die Ahnung drohenden Unheils und eine gewisse Schicksalsergebenheit? Besorgt drehte John sich am Fuß der Pyramide aus übereinandergetürmten Felsblöcken einmal im Kreis und ließ seinen Blick ringsum schweifen, um festzustellen, woher die Stimme kam. Auf dem Boden führten Fußabdrücke – oder vielmehr die auf den gesprungenen Platten und umgestürzten Granitblöcken im