Vampyrus
alten Haus auf der Klippe über dem Meer. Leichter Schnee bedeckt den felsigen Boden und der Wind weht manchmal kleine Flockenwirbel auf, die sich an einer anderen Stelle wieder absetzen. Einsam träumend steht Kardulgors Haus dort, seit Jahrzehnten vor sich hin rottend, vergessen von den Menschen. Denn selbst wenn es einen einsamen Wanderer zufällig dorthin verschlagen würde, so fände er nur verschlossene Türen. Und wäre er so vermessen, daran zu pochen, so wäre die Antwort nur das Echo aus den endlosen Korridoren, die von den leeren Räumen gesäumt werden. Sogleich übertönt von der Brandung an den Felsen und den Schreien der Möwen, die tagein tagaus um das Haus kreisen. Das Haus mit den vielen kleinen Türmen und Giebeln. Das Haus mit den blinden Fenstern und dem verkümmerten Gras drum herum. Kaum vorstellbar, dass dort einst Menschen lebten. Denn der Magier verlässt sein Haus angeblich nie. Die Laterne über dem Eingang brennt heute nicht. Ob sie in der Zwischenzeit jemals wieder geleuchtet hat? Wer weiß es, außer Kardulgor.
Das Gewicht des Benzinkanisters, den ich mitgebracht habe, zerrt an meinen Armen. Die Fenster sind alle dunkel und starren leer und schmutzig auf die Öde hinaus. Ich gehe um das Haus und suche mir eines aus, das leicht zu erreichen ist. Ich öffne den Deckel des Kanisters. Dann hole ich aus und schleudere ihn durch das geschlossene Fenster. Das Glas zerbirst klirrend, wie ein schmerzvoller Aufschrei. Zunächst ist da noch ein dunkles Loch. Aber ich werfe eine brennende Fackel hinterher. Es wird hell.
Das riesige alte Haus brennt so heftig, dass ich Schritt für Schritt zurückweichen muss. Die Flammen finden in dem verrotteten Mobiliar und dem Gebälk reiche Nahrung. Bald haben sie das erste Stockwerk erreicht und greifen nun auf das Dach über. Aufmerksam beobachte ich die Eingangstüre. Ob der Meister herauskommen wird? Schließlich wende ich mich ab und trete den Rückweg an. Hinter mir stürzt das Dach ein und sendet einen feurigen Funkenregen in den Himmel. Ob Kardulgor tot ist? Niemand weiß es. Und niemand hat jemals wieder von ihm gehört. Doch das Grimoire gehört nun mir.
Gabriele Stegmeier
Kleider machen Leute
N un komm schon, beeil dich, sonst verblutet er mir noch, und du hast nichts davon gehabt!“ Darius wandte den Kopf und seine Augen bannten die von Sibylle. Sie standen an der Außenseite des Kölner Doms, ins Eck zwischen Pfeiler und Mauerwerk gedrückt.
„Muss ich wirklich?“, wimmerte Sibylle mit piepsiger Stimme. Der Dunkeläugige schlug die Kapuze seines schwarzen Umhangs zurück, trat einen Schritt auf sie zu und fasste sie bei den Schultern. „Wenn du es wirklich willst, musst du es tun!“ Sibylle schluckte schwer und nickte.
In diesem Augenblick stolperten drei Gestalten johlend und lachend in die Gasse. Ein Handwerksbursche, ein Kaufmann und ein Ritter. Sie prosteten ihnen mit hoch erhobenen Humpen zu. Dann stutzte der Ritter. „Was ist denn mit dem Ochsenkopf da?“ Er deutete auf die am Boden liegende Gestalt. „Der blutet ja. Können wir helfen?“ Darius schob die Gruppe sanft aber nachdrücklich weiter. „Rainer ist sturzbesoffen gefallen und hat sich den Kopf angestoßen. Ich hab den Notarzt schon gerufen. Danke fürs Angebot, aber feiert ruhig weiter.“
Als die drei davon torkelten, wandte er sich wieder Sibylle zu. „Los!“, befahl er mit schneidender Stimme. Sibylle hörte die Spannung zwischen ihnen durch das Gedröhne der Karnevalsmusik knistern. Wie konnte sie nur auf die verrückte Idee kommen, mit einem Vampir zu gehen? Gerade hatte sie noch als kreuzfideles Tanzmariechen auf dem Bärenwagen die Beine geschwungen und Kamelle in die Zuschauermengen geworfen, und nun stand sie neben einem blutenden Ochsen, den Darius in die Halsschlagader gebissen hatte.
Langsam dämmerte ihr, dass Darius nicht verkleidet war. Vorsichtig tastete ihr Fuß nach hinten, und sie wäre beinahe rücklings über den leblos da liegenden Körper des Ochsen gestolpert. Der Gedanke „überleben“ durchzuckte sie, und sie rannte in Panik blind wie ein Maulwurf auf die singenden und lachenden Menschenmassen zu. Jede Sekunde glaubte sie, Darius’ Hand auf ihrer Schulter und seine spitzen Zähne in ihrem Nacken zu spüren.
Ein lachender Clown hielt sie fest, um mit ihr Polka zu tanzen. Sie riss sich los und rannte Gorbachov, der sie auf beide Wangen küsste, in die Arme. Er schwenkte einen Flachmann. „Trink ein Wässerchen mit mir, mein Kind, es
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