Van Helsing
war. Anna umklammerte die Fensterbank, ließ sich, so weit es ging, nach unten gleiten und dann fallen. Es war nicht tief der Aufprall aber trotzdem heftig. Jetzt war sie draußen, auf sich allein gestellt, und das bei Vollmond! Es fühlte sich wundervoll an! Die Kraft ihrer Vorfahren strömte durch ihre Adern, als sie sich darauf vorbereitete, am großen Kampf ihrer Familie teilzunehmen. Sie wusste, wo ihr Vater beginnen wollte, und lief in diese Richtung.
Anna hatte erst ein paar Schritte gemacht, als sie ein Heulen hörte, ein Laut, der ihr einen Schauder über den Rücken jagte, unverkennbar der Ruf eines Werwolfs, tiefer und volltönender als der eines gewöhnlichen Wolfes. Der Drang, stehen zu bleiben und Schutz zu suchen, überkam sie, aber sie zwang sich weiterzugehen – von jetzt an allerdings vorsichtiger und langsamer.
Anna lauschte nach irgendeinem Zeichen der Jagdgesellschaft oder ihrer unheiligen Beute. Doch sie hörte nur die normalen Laute der Nacht und das Pfeifen des Windes, was allerdings auch schon bedrohlich genug klang. Sie hatte das Gefühl, von allen Seiten beobachtet zu werden. Ihr einziger Trost war, dass ein Werwolf hätte er sie entdeckt, sofort über sie hergefallen wäre.
Eine halbe Stunde lang trottete Anna über die Felder, bis sie den Wald erreichte. Sie war versucht, nach ihrem Vater zu rufen, aber das wäre nicht nur töricht gewesen, sondern schlicht selbstmörderisch.
Was ist, wenn ich ihn nicht finden kann?, sorgte sie sich.
Eine der wichtigsten Regeln der Jagd war, dass niemand allein hinausging. Werwolfe griffen bevorzugt einsame Wanderer an ... so wie sie. Plötzlich knackte irgendwo zu ihrer Linken ein Zweig, und ihr Kopf ruckte in diese Richtung. Sie glaubte Schritte zu hören. Ihr Herz hämmerte, und sie sagte sich, dass es das Rascheln des Windes in den Blättern gewesen sein musste.
Der Wind...
Sie erinnerte sich, wie wichtig der Wind war. Er trug Gerüche mit sich, und der Geruchssinn der Werwölfe war einer der schärfsten. Anna musste sich gegen den Wind halten, damit das Untier nicht ihren Geruch ausmachte, aber wie sollte das gehen, wenn sie nicht wusste, woher er kam?
Sie selbst konnte nur das feuchte Laub auf dem Boden riechen. Im Wald war es totenstill: Keine kleinen Tiere huschten umher, nicht einmal das Zirpen der Grillen erfüllte die Nacht. Dafür konnte es nur einen Grund geben: Eine dunkle Macht war am Werk, ein Raubtier unterwegs, das alle anderen Kreaturen fürchteten.
Plötzlich sehnte sich Anna nach ihrem Zimmer und der Behaglichkeit ihres warmen Bettes zurück, und sie erwog umzukehren. Wenn sie Glück hatte, konnte sie unbemerkt ins Haus schlüpfen, und niemand würde je erfahren, dass sie fort gewesen war. Aber der Stolz hinderte sie daran; stattdessen folgte sie dem Weg, der am Fuße der Berge entlangführte. Ihr Vater hatte ihn ihr in der Sicherheit des Tageslichts gezeigt.
Die Furcht hielt Annas Sinne geschärft, während sie auf etwaige Anzeichen von Gefahr achtete. Dann hörte sie eindeutig Schritte. Das ist er, das ist Papa, dachte sie.
Die Schritte kamen näher. Sie erreichte eine Lichtung im Wald und blieb stehen, wollte sie nicht betreten, bevor sie sicher war, dass es die Jagdgesellschaft ihres Vaters und nicht ihre Beute war.
Dann war es bis auf das Rascheln des Windes in den Bäumen still. Vielleicht hatte sie es sich nur eingebildet. Genug war genug: Sie würde nach Hause gehen. Beim nächsten Mal würde sie Papa einfach überreden, sie mitzunehmen.
Kurz entschlossen drehte Anna sich um ... und sah, zum ersten Mal in ihrem Leben, einen Werwolf aus Fleisch und Blut. Das Monster überragte sie, versperrte ihr den Weg. Es war über zwei Meter groß, mit mächtigen Muskeln, und stand auf den Hinterläufen wie ein Mensch. Sein Atem hing als weiße Nebelfahne in der kühlen, mondbeschienenen Nacht. Das Gesicht der Kreatur war mehr wölfisch als menschlich, mit großen, spitzen Ohren und einer vorstehenden Schnauze mit Hundezähnen. Das Einzige, was dieses Gesicht von dem eines Tieres unterschied, war die grausige Intelligenz in den Augen. Die Kreatur war weniger als zehn Schritte entfernt und beobachtete sie stumm und regungslos.
Anna schien das Herz stehen zu bleiben, dann hämmerte es in ihrer Brust. Sie spürte einen Schrei in der Kehle, hielt ihn aber zurück. Sie musste ruhig bleiben. Etwas tun ...
Das Schwert.
Langsam griff sie mit der rechten Hand danach. Der Werwolf beobachtete sie mit Interesse, rührte sich aber
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