Van Helsing
Erkenntnis.
Sie sah, wie Velkan den Kopf zum Fenster drehte, wo der Vollmond soeben hinter der Wolkendecke hervorkam.
»Anna! Lauf!«, schrie er.
Nein! Er war ihr Bruder, er brauchte Hilfe, ganz gleich, was mit ihm geschah! Vor ihren Augen verwandelte sich Velkan. Sein Körper schien sich zu entspannen und dann größer zu werden. Eine Sekunde lang sah es so aus, als wäre etwas in ihm, das zu groß für seine Haut war, die sich beulte, auf seltsame Weise bewegte ... und aufriss, bis der darunter verborgene Werwolf herauskam. Das war nicht ihr Bruder ... das konnte er nicht sein ...
In diesem Moment sprang die Tür auf, und Van Helsing stürzte mit gezogenen Waffen herein.
Anna fuhr herum, und der Werwolf brach durch die Balkontür, sodass Glas und Wasser in die Waffenkammer regneten. Van Helsing rannte zu ihr.
»Geht es Ihnen gut?«
Bevor sie antworten konnte, war er bereits auf dem Balkon und suchte draußen nach der Kreatur ... nach Velkan.
Van Helsing beobachtete, wie die Kreatur horizontal an der Seite des Herrenhauses entlangkletterte. Nach ein paar Schritten stieß sie sich ab, sprang hinunter in den Fluss und schwamm Richtung Dorf. Von drinnen hörte er ein Geräusch: Van Helsing wirbelte herum und sah Carl die Waffenkammer betreten.
Schnüffelnd fragte der Ordensbruder: »Warum riecht es hier nach nassem Hund?«
Van Helsing steckte seine Revolver ins Holster und wandte sich zur Tür. »Werwolf.«
»Ah! Richtig. Dann werden Sie Silberkugeln brauchen.« Carl wühlte in seiner Kutte und zog einen Schulterpatronengurt mit glänzender Munition hervor. Er warf ihn Van Helsing zu, der ihn in der Luft fing und über die Schulter schlang.
Inzwischen hatte sich Anna von dem Schock erholt, den sie erlitten hatte. »Nein. Warten Sie.«
Er hatte keine Zeit. Sie würde mitkommen wollen, aber im Haus war sie besser aufgehoben. Van Helsing rannte aus der Waffenkammer und warf die Tür hinter sich zu. Das Hämmern, das von drinnen drang, brachte ihn auf den Gedanken, dass sie, wenn sie schon wegen des K. O.-Pulvers empört war, jetzt noch viel wütender sein würde.
»Van Helsing!«, schrie sie. Er ignorierte sie, konzentrierte sich auf die vor ihm liegende Aufgabe und stürmte hinaus in die Nacht. Die Jagd hatte begonnen.
Er marschierte zu Fuß zum Dorf. Die Straßen waren ein Labyrinth aus Geschäften und Häusern; die einzigen Laute waren die gedämpften Stimmen, die aus den vielen Tavernen drangen. Es war bemerkenswert: Erst vor ein paar Stunden hatten Vampire das Dorf angegriffen, und jetzt feierten die Leute schon wieder. Das war wirklich ein seltsames Dorf! Van Helsing fragte sich, was die Bewohner im Lauf der Jahre alles erlebt haben mochten.
Bald schon überkam ihn der Zustand erhöhter Konzentration, den er nur spürte, wenn er eine der dunklen Kreaturen jagte; er war sich sämtlicher Geräusche bewusst, jedes Geruchs, jeder Bewegung in seinem Blickfeld.
Vor seinem geistigen Auge erschien Annas Gesichtsausdruck, kurz bevor er sie zurückgelassen hatte. Da war Furcht, aber auch noch ... etwas anderes gewesen. Und wie hatte sie so lange in einem Raum mit einem Werwolf überleben können?
Da war es. Seine Beute war in der Nähe, der Gestank überdeutlich. »Nasser Hund«, sagte er laut.
Da schoss auch schon etwas Felltragendes aus einer fernen Gasse. Die Umrisse des Werwolfs verschwammen, als er mit schier unglaublicher Geschwindigkeit kreuz und quer über die Straße hetzte, von Tür zu Tür, näher und immer näher kommend. Van Helsing riss die Waffen hoch, aber irgendwie gelang es der Kreatur, seinem Visier immer einen Schritt voraus zu sein.
Mit einem einzigen Satz verschwand sie schließlich in einer etwa sieben Meter entfernten Gasse. Die Spielregeln hatten sich geändert. Ein Sinn, der älter und schärfer war als die fünf normalen Sinne, verriet Van Helsing, was Sache war. Er wich ein paar Schritte zurück und fragte sich: »Wer jagt hier wen?«
Der Werwolf war hinter ihm her, so viel stand fest, und schmale Gassen waren nicht gerade der ideale Ort, sich dem Monster zu stellen. Van Helsing eilte weiter, bis er fand, was er suchte: Vaserias Friedhof.
In der Nähe erklang ein Geräusch. Van Helsing bog um die Ecke, presste den Rücken an die Wand und bereitete sich auf den Angriff vor, der jeden Moment erfolgen musste. Nichts. Es war wieder still – zu still für seinen Geschmack. Plötzlich prallte etwas neben ihm gegen die Wand. Van Helsing riss die Waffe herum und zielte auf die
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