Van Helsing
schenkte Aleera ein warmes Lächeln. »Du siehst ja ganz ausgehungert aus, Liebes. Geh und hol dir einen kleinen Happen!«
Aleera sah missbilligend zu, wie der Graf sich mit Anna zu der verspiegelten Wand wandte. »Geben wir nicht ein hübsches Paar ab?«, bemerkte er und zeigte auf den Spiegel. Anna sah nur sich: Draculas Spiegelbild fehlte. »Ich suche eine neue Braut, Anna. Stark und schön muss sie sein.«
Im Spiegel sah es so aus, als tanze Anna ganz allein, als werde sie von einer unsichtbaren Macht hintenübergekippt und umhergewirbelt. »Dazu braucht es nur einen Biss«, erklärte er und zog sie eng an sich. Anna spürte seine Rippen an ihrer Brust.
»Ihr Herz schlägt nicht«, bemerkte sie.
»Vielleicht braucht es nur etwas Aufmunterung«, antwortete er freundlich. Er wollte sie küssen, aber Anna drehte wütend den Kopf zur Seite. Langsam schlug die Stimmung um; Anna spürte, dass Dracula das Spielchen leid war. Sie befürchtete, jeden Augenblick seinen Mund an ihrem Hals zu spüren.
Vom Balkon aus beobachtete Van Helsing, wie Carl sich seinen Weg durch die Menge bahnte. Er spürte: Dracula war bereit für den nächsten Zug. Endlich war der Ordensbruder so weit auf die Tanzfläche vorgedrungen, dass er Anna und den Grafen im Blickfeld hatte. Sogar Carl schien etwas zu ahnen und bewegte sich immer schneller.
Ganz in der Nähe legte ein Feuerschlucker den Kopf in den Nacken, um seinen Trick vorzuführen, dann hob er die Fackel an den Mund. Carl schlich sich rasch an und verpasste ihm von hinten einen kräftigen Stoß. Der Feuerschlucker stolperte und spie die Flamme auf Draculas Umhang.
Nun war Van Helsing an der Reihe. Er sprang über die Brüstung und landete auf dem Hochseil, das die Artisten zuvor benutzt hatten. Er hatte zwar in den vergangenen sieben Jahren kein Hochseiltraining absolviert, aber sein Instinkt verriet ihm, dass er es schaffen würde. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen und wurde immer schneller, bis er praktisch über das Seil lief.
Dann zückte er sein Messer und zerschnitt das Seil, hielt sich daran fest und schwang sich hinunter in die Menschenmenge, während die Seiltänzer rings um ihn abstürzten.
Wütend packte Dracula den Feuerschlucker und schleuderte ihn durch den Ballsaal. Sehr gut: Der Graf war abgelenkt. Als Van Helsing über den Köpfen der Tanzenden schwebte, kam Anna auf ihn zugerannt. Rasch umfasste er ihre Taille und schwang mit ihr in die Höhe. Kurz darauf landeten sie auf einem Balkon an der gegenüberliegenden Seite des Ballsaals.
Van Helsing nahm sich einen Augenblick Zeit, um nach unten zu schauen. Die Menschen starrten zu ihnen hinauf, und dann legten sämtliche Gäste gleichzeitig ihre Masken ab. Ihre Augen wurden gelb, die Haut weiß, und ihnen wuchsen spitze Eckzähne. Vampire!, dachte Van Helsing, als sie ihn anfauchten. Ziemlich viele Vampire.
Dracula sah ihn lächelnd an. »Willkommen in meinem Sommerpalast!«
Das war der Augenblick, in dem Van Helsings Plan vollkommen den Bach hinunterging.
Da flog eine der Seitentüren auf, und eine Gruppe Untoter kam herein, die Frankenstein über ihren Köpfen trugen. Der Hüne war gefesselt und brüllte vor Wut. Ein verkrüppelter kleiner Mann saß rittlings auf seiner Brust.
»Wir haben ihn, Meister! Wir haben ihn!«
Dracula stieß ein böses, triumphierendes Lachen aus. Er wies auf Van Helsing und Anna und sagte zu seinen Gefolgsleuten: »Bedient euch!«
Die ganze Meute stürmte mit einem fürchterlichen kreischen vorwärts. Anna war bereits in Bewegung. Sie riss von einer Ritterrüstung, die zur Dekoration aufgestellt war, einen Arm ab und steckte die Hand tief in den metallenen Handschuh, an dem eine mit Nägeln besetzte Stahlkeule befestigt war.
Van Helsing wusste nicht, ob ihnen die Waffe nützen würde, aber der Prinzessin schien sie zu gefallen. Er zerrte sie in den Korridor und stürzte los. »Wo wollen wir hin?«, fragte Anna atemlos und lief ihm hinterher.
Van Helsing wies auf ein großes Buntglasfenster, auf dem Engel, Putten und Heilige dargestellt waren. »Durch das Fenster!«
»Sind Sie wahnsinnig? Dann werden wir von Kopf bis Fuß aufgeschlitzt!«
»Nicht, wenn Sie locker und entspannt bleiben«, entgegnete er, nahm Anna an die Hand und rannte mit ihr auf das Fenster zu. Im letzten Augenblick fiel ihm etwas Merkwürdiges auf: Einer der dargestellten Heiligen hielt die Hand hoch, als wolle er »Halt!« sagen. Van Helsing hörte auf seinen Instinkt, hielt Anna fest und
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