Variante Krieg oder Der Untergang des DDR - Planeten (German Edition)
schon Zigarettenstummel aus den Pißbecken herausgeholt. Meinen Sie, mir macht das Spaß?“
Scherer war zum offiziellen Ton zurückgekehrt, gab sich nun als treusorgender Vater der Hundertschaft, streng, aber gerecht. Dann übergab er an den Wilfried unbekannten Lehrer, der die Rolle der Mutter spielte:
„Es erschreckt mich, anzusehen, wie erwachsene junge Männer der Aufgabe, den Waschraum sauberzumachen, hilflos gegenüberstehen. Mit dem Scheuerhader werden die Fußböden gewischt und nicht auch die Spiegel!“
Offenbar bestand ein Grundwiderspruch der entwickelten sozialistischen Gesellschaft darin, daß diese den gehorsamen, abhängigen, selbständig denkenden und handelnden Menschen benötigte. Daß man nicht beides zugleich haben konnte, begriff anscheinend niemand!
***
„Weißt du, was in der Stube auf uns wartet? Eine schöne Flasche Tee!“
Nach langem Marsch wirkten diese Worte eines Kameraden auf Wilfried tatsächlich noch einmal motivierend für den Rest des Weges zurück ins Lager. Wie war man in kürzester Zeit bescheiden geworden, wenn man sich nun sogar schon nach dem Hängolin - Tee sehnte!
***
In der zweiten Woche stieß tatsächlich noch ein Klassenkamerad zu ihnen. Er hatte die erste Woche bei der Bezirksspartakiade als Sportler zugebracht und war daher freigestellt worden.
Wilfried mußte an die Worte des Direktors denken - eine Befreiungsmöglichkeit bestünde nicht. Dafür offenbar immer! Olympische Medaillen dienten dem nationalen Prestige der größten DDR, dem mußte alles andere untergeordnet werden, denn die Kader wurden auch auf den Spartakiaden ausersehen.
***
„Wir können uns noch eine Fünf auf der Sturmbahn leisten!“
„Wir können uns noch zwei Fünfen beim Schießen leisten!“
„Wir können uns noch eine Fünf beim Schießen leisten!“
„Wir können uns keine Fünf mehr beim Schießen leisten!“
Wilfried hatte die letzte Fünf geschossen, was ihm im Gegensatz zur Schule auf einmal seltsam gleichgültig war - ja, in ihm blitzte sogar einen Moment der Gedanke auf, daß er im Ernstfall wenigstens niemanden getroffen hätte.
Die Abschlußübung hatte mit gestuftem Gefechtsalarm für die einzelnen Züge der Hundertschaften begonnen, angefangen um 3.00 Uhr nachts. Die regelmäßigen Pfiffe und das Trappeln der abmarschierenden Stiefel verscheuchten jeden Rest von Schlaf. Vor Wilfrieds geistigem Auge erstand das Bild „Auszug der Jenaer Studenten“, welches er im Atrium des Auditorium maximum der „Friedrich-Schiller- Universität“ gesehen hatte und das die Mobilisierung der Burschenschaften für den Befreiungskampf gegen Napoleon zeigte.
Um 8.00 Uhr war der Marschbefehl für Wilfrieds Zug noch immer nicht erteilt.
Man hatte ihnen geraten, zum Speisesaal zu gehen, dort gebe es noch kalten Tee und harte Semmeln vom Vortag.
Der Befehl zum Abmarsch um 9.00 Uhr war Wilfried fast wie eine Erlösung vorgekommen.
***
„,Beste Hundertschaft´ sind geworden“ - der Redner am Mikrofon auf dem Appellplatz machte eine Kunstpause, von der er glaubte, sie würde die Spannung steigern, „die erste, die dritte, die vierte, die fünfte und die sechste Hundertschaft!“
Ein Raunen ging durch die Menge, denn damit hatte niemand gerechnet. Auch die Lehrer hatten nichts dergleichen verlauten lassen, wahrscheinlich, weil sie dachten, die Motivation der Kameraden könnte nachlassen - sicherlich nicht ganz unberechtigt.
„Hiermit erkläre ich den Kurs zur vormilitärischen Ausbildung 1980 in Trägerschaft der Gesellschaft für Sport und Technik für beendet! Gute Heimreise!“
Ein verhaltener Seufzer der Erleichterung ging durch die Menge, auf Wilfried hingegen lastete statt dessen immer stärkerer Druck.
Der Himmel war wolkenlos, die Sommerferien, verkürzt um zwei Wochen, begannen, er würde nun nach bestandener Theorieprüfung Lkw - Fahrstunden nehmen können - alles für die Vorbereitung auf die immer näher rückende, endlos lang scheinende, lebensunwerte Lebenszeit bei der NVA.
Schwarze Wolken verdüsterten die Sonne an seinem Himmel.
-
5. Tanz auf dem Vulkan
Im August 1980 begannen erste Streiks auf der Leninwerft in Gdansk (Danzig), die letztlich in die Gründung der unabhängigen Gewerkschaft „Solidarnosc“ in Polen mündeten.
Ende Oktober verkündete die polnische Regierung, daß die Wehrpflichtigen, die nach 18 Monaten ihren Wehrdienst am 31.10.1980 beenden würden, zwei Monate länger dienen müßten.
„Weißte, wie de da abstinkst,“
Weitere Kostenlose Bücher