Variante Krieg oder Der Untergang des DDR - Planeten (German Edition)
Maidemonstration, besser nicht fernhielt, wurde von Hocker, dessen Haupt von einer imposanten Pelzmütze bedeckt war, die entsprechende Rede gehalten.
Wie froh war Wilfried, wenigstens von dieser freiwillig aufgezwungenen Demonstration verschont zu bleiben. Andererseits wunderte er sich schon ein wenig, wieso man in seiner Stadt nicht auch eine solche Demonstration zum selben Zeitpunkt stattfinden ließ.
An die im NATO - Doppelbeschluß festgeschriebene zweite Variante, den Verzicht auf die Stationierung neuer Mittelstreckenraketen bei einer erfolgreichen Verhandlungslösung mit dem Warschauer Vertrag, insbesondere der Sowjetunion, glaubte indes niemand.
Man war der festen Überzeugung, daß diese Abschnitte nur eingefügt waren, um die wahren Absichten zu vernebeln und um schlichtere Gemüter zeitweise etwas zu beruhigen.
„Man redet immer davon, was man nicht oder sehr bald nicht mehr haben wird,“ meinte dazu der Vater.
„Ulbricht sagte noch kurz vor dem Mauerbau in einem Interview, niemand habe die Absicht eine Mauer zu errichten. Das wird heute natürlich geleugnet, ich weiß es aber noch ganz genau, hab´ es selbst gehört. Zuvor hatte kein Mensch an so etwas gedacht, wenn er nicht gerade in der Regierung saß, daraufhin aber bin ich hellhörig geworden.
Und in den 30er Jahren beispielsweise hat man in der Sowjetunion in den Städten und Dörfern agitiert, wie überlegen die Feuerkraft der Roten Armee gegenüber der Wehrmacht wäre, so daß der Frieden gesichert bliebe.“
Als er in Wilfrieds schreckgeweitete Augen blickte, ergänzte er: „Ein Scharfmacher ist der Ewald aber nicht!“
Wilfried begann aufzudrehen.
Am Montag, dem 2.11.1981 würde sein Leben vorbei sein, zumindest in der ihm bekannten Form. Bis dahin galt es, so viel wie irgend möglich, zu erleben, „mitzunehmen“, wie es unter den Jungs hieß.
Konzerte, Theateraufführungen, Disco, Kino, Wochenendausflüge, Party, man hastete von Event zu Event.
Wilfried erfuhr dabei den feinen Unterschied zwischen Ereignis und Event: Ein Ereignis hat weitreichende Folgen in die Zukunft, die Bedeutung eines Events hingegen reicht nicht über dessen Stattfinden hinaus.
Beim Happening hingegen wußte man überhaupt nicht, was es eigentlich ist - aber das war ja gerade das Schöne.
Oftmals war es sehr schwierig, an die nötigen Eintrittskarten heranzukommen, oder auch nur an Kartoffelchips, doch wo ein Wille war, gab es auch in der Mangelwirtschaft einen Weg.
Dann waren da noch Reisen während aller, aber auch wirklich aller Schulferien, die ebenfalls zu „ergattern“ fast unmöglich gewesen war, angefangen mit einer Reise über Silvester ins Erzgebirge.
Sogar nach Warschau gelangten Wilfried und einige seiner Freunde, obwohl seit den Streiks 1980 Individualreisen nach Polen nicht mehr möglich waren.
Die Gruppe wurde dort zu einem Gespräch mit einem hochrangigen Regierungsvertreter eingeladen. In perfektem Deutsch erklärte er ihnen die Ereignisse in Polen aus der Sicht der Streikenden - nie zuvor hatte Wilfried einen freieren Luftzug am offenen Fenster verspürt.
Mitte September, die letzten Sommerferien waren bereits vorbei, war Wilfried wieder zum Wehrkreiskommando einbestellt, diesmal zur Einberufungsuntersuchung, wie es hieß.
Artig wies er dem untersuchenden Arzt seine Maskenbrille vor, die dieser jedoch keines Blickes würdigte.
Es folgte die Wilfried schon bekannte, betont nachlässige körperliche Untersuchung.
„Der Einberufungsbefehl geht Ihnen in den nächsten Tagen zu. Anfang November, dritter, vierter, fünfter November oder so beginnt der Wehrdienst. Sollte zuvor eine Mobilmachung erfolgen, haben Sie sich ab sofort unverzüglich hier im Wehrkreiskommando zu melden!“
Der zu Wilfried sprechende Offizier machte einen recht väterlichen Eindruck auf ihn.
„Wird schon nicht so schlimm werden,“ schien er sagen zu wollen.
In der Schule instruierte derweil Direktor Greghorn die Schüler, was im Falle eines Sirenenalarms zu tun sei: „Fernsehen und Radio einschalten und Anweisungen befolgen!“
Wilfrieds Klasse hatte das zweifelhafte Vergnügen, von ihm im Fach Staatsbürgerkunde unterrichtet zu werden.
Greghorn gehörte anscheinend nicht zu den dumpf linientreuen Genossen, ja, er war sogar recht smart. Allerdings machte ihn das um so gefährlicher.
Ihm gelang es mühelos, eine verbindliche Vertraulichkeit, ein „Wir sind doch unter uns“ - Gefühl zu erzeugen, welches die innere Wachsamkeit schläfrig
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