Variante Krieg oder Der Untergang des DDR - Planeten (German Edition)
asphaltierten Landstraße in eine Betonplattenstraße ein, noch viel holperiger als die berüchtigten unsanierten DDR-Autobahnen aus der Hitlerzeit. Wilfried gewahrte ein Haltestellenschild auf freier Strecke. Das mußte die Haltestelle „Abzweig Objekt“ gewesen sein. Ab hier hieß es also zu Fuß zu gehen, wenn man nicht gerade in einem Transport direkt zum „Objekt“ saß.
Die Betonpiste schien sich endlos hinzuziehen. Als Wilfried schon glaubte, völlig im Nirwana geendet zu sein, hielt der Bus auf einmal vor einer Schranke, die sich sogleich bereitwillig öffnete. „In entgegengesetzter Richtung würde es wohl schwieriger werden,“ ahnte Wilfried.
„Ende der Freiheit!“
„Wann aber war er jemals zuvor in seinem Leben wirklich frei gewesen?“ überlegte er plötzlich ganz verzweifelt, als ob sein Leben davon abhinge, eine befriedigende Antwort noch vor dem Verlassen des Busses zu finden.
„Ungarn, Balaton, Budapest“ fiel ihm gerade noch rechtzeitig ein. Ein kurzes Gefühl der Erleichterung durchströmte ihn. Ja, er hatte gelebt, und er hatte ein richtiges Leben im falschen gehabt, kostbare Augenblicke des freien, wahren Lebens!
Der Busfahrer mußte wohl seine Beklemmung bemerkt haben. Wie schon in Torgau nickte er freundlich: „Hier geht es ruhig zu,“ sagte er dann.
In Wilfried begann Hoffnung zu keimen, daß sein Plan, rechtzeitig die Lkw - Fahrerlaubnis zu erwerben, ihn möglicherweise zum erhofften Ziel bei der NVA geführt hatte.
„Alles antreten!“ brüllte jetzt irgendein Vorgesetzter, dessen Dienstgrad Wilfried noch unbekannt war.
„Sie, Sie und Sie da, zuerst zum Friseur!“ Der Vorgesetzte zeigte auf mehrere langhaarige Männer, einer von ihnen trug außerdem noch einen Vollbart. Ein anderer Vorgesetzter trat hinzu und führte die Delinquenten ab. Das Ganze kam einer Verhaftung ziemlich nahe, über noch ganz andere Assoziationen im Zusammenhang mit dem Scheren von Haaren mochte Wilfried gar nicht nachdenken.
„Sie erhalten jetzt alle ihre Grippeschutzimpfung! Im Zivilen ist die freiwillig, hier aber Pflicht. Wenn der Feind mit biologischen Kampfstoffen in Form von Grippeviren angreift, sind Sie geschützt und bleiben einsatzbereit!“
Wilfried hatte dergleichen geahnt und sich wohlweislich in diesem Jahr nicht gegen Grippe impfen lassen. Diskussionen über bereits durchgeführte Impfungen hätten vermutlich nichts bewirkt. Eigeninitiative wurde zwar verbal allenthalben eingefordert, war tatsächlich aber mehr als unerwünscht, und ganz besonders bei der Armee.
Wilfried hatte, der Empfehlung des Vaters folgend, Jaroslav Haseks „Schwejk“ gründlich gelesen - die Lektüre hatte nicht unbedingt dazu beigetragen, wenigstens seine dunkelsten Befürchtungen etwas zu zerstreuen - er wußte nun aber, daß bestimmte Rituale jeder Armee immanent waren. Grippeschutzpflichtimpfung - sie war die etwas modernere Variante der Entlausung, das erste von mehreren Initiationsritualen.
Während des Marsches Richtung Med. - Punkt musterte Wilfried kurz die Umgebung.
Um zwei parallel zueinander ausgerichtete Plattenbauten führte ein Betonplattenweg herum, dazwischen befand sich wie in einem Wohngebiet ein schmaler Grünstreifen. Sogar eine Parkbank ohne Lehne war vorhanden. Das Ganze wurde, wie konnte es auch anders sein, von einem Maschendrahtzaun umgeben, hinter dem auf der einen Seite ein Wäldchen lag.
Noch im Verlaufe dieses Tages sollte Wilfried feststellen, daß es sich bei einem der beiden Fünfgeschosser um die Mannschaftsunterkünfte handelte, bei dem anderen hingegen um das Gebäude der Regimentsführung und -verwaltung, das Stabsgebäude.
Ziemlich weit weg lag ein Heizkraftwerk mit einem mächtigen Schornstein, was Wilfried zuversichtlich stimmte, daß man in den Unterkünften sicherlich Fernheizung hatte und nicht noch extra heizen mußte.
Neben dem Kontrolldurchlaß befanden sich ausgedehnte Flachbauten, deren Zweck Wilfried zunächst nicht ersichtlich war - später erfuhr er, daß es sich um kulturelle Einrichtungen handelte. Gaststätte und Kinosaal befanden sich dort.
Um die Gaststätte aufsuchen zu können, mußte man allerdings Ausgang erhalten haben; selbiger ging in der Kompanie zu Lasten der Gefechtstärke, die nie unter 75 % der Mann - Sollstärke liegen durfte.
Hinter dem Stabsgebäude lag der weitläufige Kfz. - „Park“.
Die positive Besetzung des Begriffes „Park“ zerstob für Wilfried in dem Moment, als er das erste Mal dorthin geführt wurde,
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