Variante Krieg oder Der Untergang des DDR - Planeten (German Edition)
verlieren?
Nein, es war nicht die Unterführung vor dem Bahnhof, die das Echo seiner Schritte nachhallen ließ. Er war doch gerade eben erst die Treppe hinuntergestiegen. Gleich würde er die Ampelkreuzung Richtung Stadtzentrum überqueren, erst danach kam die Straße zum Hauptbahnhof.
Am Fenster zogen die schwarzen Lettern auf dem schwarzumrandeten weißen Schild vorbei. Wilfried las und konnte das Wort nicht identifizieren. Ihm unbekannte Zeichen waren das! Wie kam er überhaupt hinter das sich bewegende Fenster? Er hatte sich doch eben noch auf der Straße zum Bahnhof befunden? Mit äußerster Anstrengung gelang es Wilfried, auf dem Schild das Wort „Torgau“ zu buchstabieren.
So war das also, wenn man sich an zwei Orten zugleich befand. Es war möglich, aber man hatte einen Preis dafür zu zahlen, so, wie für alles im Leben. War Analphabetismus ein hoher Preis?
Wilfried blickte auf das dunkelgrüne Zifferblatt seiner Uhr mit den phosphoreszierenden Zeigern, Marke Kienzle. Er besaß keine aus RGW - Produktion (RGW-Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe, die sozialistische Mangelwirtschaftsgemeinschaft) und hatte sich nach einigem Zögern entschlossen, sie mitzunehmen. Notfalls konnte er immer noch behaupten, sie in Warschau auf dem Trödelmarkt billig erstanden zu haben, wenn sie wirklich einem Vorgesetzten auffallen sollte. Man trug sie gewöhnlich ja immer unter einem langen Ärmel, auch im Sommer.
Erst 10.00 Uhr. Noch zwei Stunden in Freiheit! Auf dem Bahnhof sammelten sich kurzgeschorene junge Männer, offensichtlich die anderen Neueinberufenen. Busse mit der Aufschrift „Sonderfahrt“ standen bereit. Um 11.17 Uhr sollte ein Linienbus nach Neiden fahren. Wilfried überlegte einen Augenblick, entschied sich dann aber doch für einen der in wenigen Minuten abfahrenden Einsatzbusse. Pseudofreiheit auf dem Bahnhof zwischen wartenden Wehrpflichtigen - na danke! Vielleicht hatte es ja auch einen kleinen Vorteil, wenn man nicht als Letzter eintrudelte.
Zögernd näherte sich Wilfried einem der IKARUS - Busse. Der Fahrer, ein gemütlicher älterer Herr mit etwas zu klein geratener Dienstmütze, die von seiner Halbglatze etwas mehr als nur den ergrauten Haarkranz sehen ließ, stand neben seinem Bus und nickte Wilfried aufmunternd zu: „Nu steigen Se schon inn!“
„Fahren Sie ins Objekt Torgau/ Neiden?“ fragte Wilfried schüchtern, seinen Einberufungsbefehl vorzeigend, der ihm zugleich als Fahrkarte diente, um nicht etwa in einem falschen Sammeltransport zu landen. Bevor der Busfahrer antworten konnte, hatte sich eine Frau in NVA - Uniform neben die vordere Tür des Busses gestellt.
„Nu wird´s bald?“ giftete sie.
Klein war sie, mit grauer Filzkappe, grauem Jackett und grauem Uniformrock, Silberstreifen auf den Schulterstücken. Unsagbar häßlich wirkte sie in diesem Outfit.
Ihr Auftreten - das einer KZ - Aufseherin! Für Mitleid mit einer Frau, die sich in eine derart unvorteilhafte Schale werfen mußte, und das Tag für Tag, war in Wilfrieds Herz kein Platz.
Keine Frau in diesem Staate war genötigt, zur NVA zu gehen, wofür Wilfried alle Frauen schwer beneidete und die dabei gar nicht zu schätzen wußten, wie gut sie damit dran waren, sondern immer nur etwas vom Kinderkriegen faselten, wenn dieses Thema angesprochen wurde, ganz, als ob sich eine Frau diesbezüglich nicht selbst entscheiden konnte - im Gegensatz zu den wehrpflichtigen Männern, denen keine Wahl blieb; wer es also als Frau trotzdem tat und zur NVA ging, war allein selber schuld.
Als Wilfried im Bus saß, ja, er hatte tatsächlich einen Sitzplatz, sah er, wie grüne W 50 - Lastkraftwagen mit Plane abfuhren. Auf deren Ladeflächen hockten junge, kurzgeschorene Männer, noch in Zivilkleidung, so wie er.
Wilfried überlegte einen Moment, ob diese wohl auch nach Neiden ins „Objekt“ fahren würden. In diesem Fall hätte er ja mit dem Sitzplatz im Bus richtig Glück gehabt.
„Ist die Giftigkeit dieser zweifelhaften Reiseführerin auf dem Klappsitz neben dem Fahrer Ursache oder Folge ihres offensichtlich freiwilligen Dienstes bei der NVA?“ überlegte Wilfried, als der Bus anfuhr.
„Wer von zu wenig heiterem, statt dessen unangenehmem, griesgrämigem Wesen ist, um gesellschaftlich zu reüssieren, mochte bei der Armee noch immer ein Auskommen finden, auch und gerade als Frau. Es handelte sich hierbei wieder einmal um das alte Ei - Henne - Problem,“ grübelte er noch einen Moment.
Dann bog der Bus auch schon von der
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