Variante Krieg oder Der Untergang des DDR - Planeten (German Edition)
hatte er sich wohl davor gefürchtet, im Zivilleben nicht Fuß zu fassen. Obwohl er eigentlich nicht gewollt hätte, habe er dann aufgekohlt. Mittlerweile seien die 25 Jahre bald um, wieder stehe er vor der Frage: Gehen oder bleiben? Ob man ihm wohl weitere fünf Jahre bewilligte? Mit 45 sei ja eigentlich Schluß bei der NVA, es sei denn, man wäre mindestens Major.
Die Generäle spielten ohnehin in einer anderen Liga. Neuerdings habe man sogar einen neuen Dienstgrad erfunden, den „Marschall der DDR“. Der trage einen Diamantstern auf den Schulterklappen.
Allerdings gebe es noch keinen General, der dahin befördert worden wäre.
Wilfried mußte unwillkürlich schmunzeln, denn natürlich fiel ihm beim Dienstgrad „Marschall“ immer nur der Österreicher Radetzky und sein gleichnamiger Marsch ein.
Gleich darauf mußte er sich beherrschen, nicht laut loszuprusten, denn er glaubte sich zu erinnern, daß die Bezeichnung „Marschall“ von „Marschalk“ abgeleitet war, und das bedeutete „Pferdeknecht“.
In einem hatte Napoleon Bonaparte sicher recht gehabt - vom Erhabenen zum Lächerlichen war es immer nur ein Schritt!
Am angenehmsten war es, wenn der Spieß abwesend war. Dann war Wilfried flugs mit den Arbeiten fertig, die seinen Tätigkeitsbereich umfaßten.
Bettwäsche, Uniformen, Arbeitskleidung tauschen - dabei alles genauestens abzählen und in die Bestandsbücher eintragen wurde zur tagesfüllenden Beschäftigung.
Schumann hatte sich beizeiten der unangenehmeren Tätigkeiten entledigt und Wilfried den Schlüssel für die B/A-Kammer der Kompanie, der Kammer für Bekleidung und Ausrüstung übergeben. Unter dem Vorwand, dort aufzuräumen und sauberzumachen, hatte sich Wilfried ein um das andere Mal in ein Refugium zurückgezogen, um das ihn so mancher beneiden würde. In der Kiste mit technischen Geräten hatte er etliche Bücher versteckt. Nicht einmal Schumann ahnte, daß er dort nach Herzenslust las. Soldaten und Unteroffiziere ohne jegliche geistige Bedürfnisse hätten dies als „abkeimen“ bezeichnet.
Überhaupt gab es viele armeespezifische Wortschöpfungen mit der Vorsilbe „ab“: abschlafen, abruhen, abtarnen, abreinigen, abglänzen, absingen, abqualmen, abfeiern, … Die Steigerungsform wurde mit „hemmungslos“ gebildet: „Hemmungslos abschlafen ….“
„Abschießen“ aber war bezeichnenderweise nicht in Gebrauch, vermutlich hätte das den Kriegsgott zu stark heraufbeschworen.
Häufigstes Substantiv war hingegen die „Maßnahme“. Auch der Kinobesuch der Kompanie oder die Kabarettaufführung waren „Maßnahmen“ - kulturelle Maßnahmen.
Wilfried achtete streng darauf, diese Wörter selbst nicht zu benutzen - er wollte sein Denken davon freihalten und damit auch sein Verhalten. Nach der Entlassung würde er weniger Probleme haben, wieder im Zivilleben anzukommen, hoffte er.
Zwischen welchen technischen Geräten Wilfried seine Bücher lagerte, wußte er anfangs nicht, dann aber siegte die Neugier: Er packte ein Geiger - Müller Zählrohr aus samt Ladegerät für Akkus und Bedienungsanleitung. Die Akkus waren tatsächlich noch aufladbar, so daß Wilfried das Zählrohr in Betrieb nehmen konnte.
In der Fahrzeughalterung befand sich eine Radium - D - Quelle zu Testzwecken; hielt man das Rohr, auf die empfindlichste Stufe kalibriert, an die radioaktive Quelle, so knackte es, ganz wie im Physiklehrbuch der 10. Klasse beschrieben.
Wilfried vermied es fortan, sich auf die Kiste zu setzen. Als er sah, bis zu welch hohen Strahlendosen die Kalibrierungsskala reichte, gruselte es ihn gehörig.
Beinahe wäre es mit dem Refugium zu Ende gewesen.
Wilfried hatte nach einem Kurzurlaub Mitte Januar 1982 einen Karton mit dem Aufdruck „Raider - der Pausensnack“ mitgebracht und in der B/A - Kammer verstaut. Als der Spieß diesen erblickte, hob ein fürchterliches Donnerwetter an. Er verstieg sich schließlich zu der Behauptung, Wilfried würde sich soweit erniedrigt haben, Almosen aus dem Westen anzunehmen. Das Ganze sei Wehrkraftzersetzung!
Wilfried wagte nicht, den Spieß darauf aufmerksam zu machen, daß dieser Begriff aus der Nazizeit stammte.
Tiefste Zerknirschung demonstrierend bat Wilfried um Vergebung für diesen unverzeihlichen Fauxpas, welche der Spieß durch Zureden von Schumann schließlich gewährte.
Schumann aber war Wilfrieds Wohl völlig egal - er befürchtete nur, er müsse auf seine letzten Monate wieder die volle Arbeit als Schreiber übernehmen, was ihn
Weitere Kostenlose Bücher