Variante Krieg oder Der Untergang des DDR - Planeten (German Edition)
seine konstant miese Laune jetzt einer gewissen Neugier gewichen. Endlich konnten überfällige Entscheidungen nicht länger hinausgeschoben werden.
Der auf ihm permanent lastende Druck war einer seltsam gelösten Stimmung gewichen, die manchmal geradezu ins Euphorische schwang-und er stellte fest, daß es seinen Genossen genauso ging.
Der fürchterliche Egon Blauw bekam väterliche Züge, Mahlmann stieg ob seiner geheimen Vorräte für alle möglichen Dinge einschließlich schwarz beschaffter Nahrung hoch im Kurs wie ein Rennpferd auf der Zielgeraden. Man biederte sich an den Hauptfeldwebel und seinen Schreiber Wilfried Montag an, in der Hoffnung, etwas zusätzlich abgreifen zu können.
Und der Hauptfeldwebel ging in seiner Rolle als Mutter der Kompanie auf. Man sah ihm an, daß er seit jeher genau diese Verhältnisse sich gewünscht, herbeigesehnt hatte.
Jetzt, genau jetzt war sie gekommen: die beste Zeit seines Lebens!
Daß niemand von den Soldaten mehr aus der Reihe tanzte, war auf einmal selbstverständlich. Man konnte nur in der Gruppe überleben, aber in dieser Gruppe, einer militärischen Einheit, war man jedweden anderen zivilen Gruppierungen im Lande überlegen, haushoch überlegen. Elitär war man, jeder war stolz, der TIBK anzugehören, die nicht nur mit militärischer Stärke, sondern auch mit mannigfaltiger Technik aufwarten konnte.
Und man mußte sich täglich der Zugehörigkeit versichern, indem man etwas einbrachte: Leistungen, Kraftstoffe außerhalb des Kontingentes, schwarz beschaffte Knackwürste, Kaffee, Schokolade …
„Ist der Preis dafür die totale Unterordnung, ja Unterwerfung?“ überlegte Wilfried ein letztes Mal vor dem Einschlafen, bevor er diese Gedanken vollständig und total ausmerzte.
Der Kalender zeigte Montag, den 1. März 1982, Tag der Nationalen Volksarmee der DDR.
In der Kaserne wurde dieser Tag als Feiertag begangen, jedermann hatte sein bestes Gewand, die Ausgehuniform anzulegen. Man brauchte nicht zu arbeiten. Auch der Frühsport fiel aus.
Es war der Tag der vorzeitigen Beförderung besonders verdienstvoller Soldaten zum Gefreiten. Schumann hatte Wilfried berichtet, daß man früher diese Genossen auch „Treibschweine“ genannt hatte.
Noch vor wenigen Wochen wäre dies Wilfried völlig gleichgültig gewesen, nun aber hätte eine derart ungeheuerliche Beleidigung seiner schwer arbeitenden Genossen einen Zornesausbruch hervorgerufen.
Das Frühstück fiel trotz der festlichen Stimmung im ganzen Regiment ziemlich karg aus.
Beim sich anschließenden Regimentsappell wurde Oberst Nolte feierlich verabschiedet - nach Berlin für „andere wichtige Aufgaben“.
Querer, der zum Fahrer des Obersten bestimmt worden war und damit einen der angenehmeren Posten im Regiment innehatte - denn das Dienstfahrzeug war ein Pkw Marke „AWE“ - Automobilwerk Eisenach - im zivilen Leben als „Wartburg“ bekannt - hatte hinter vorgehaltener Hand berichtet, daß kürzlich dem Obersten auf der Fahrt ins Verteidigungsministerium übel geworden sei, vermutlich durch zuviel vorabendlichen Alkohol. Dergleichen sei zuvor schon öfter geschehen; da die Ehefrau des Obersten ein vollgekotztes Auto als höchst unerfreulich empfand, habe der Oberst in seiner Not die Aktentasche mit wichtigen Dokumenten als Brechtüte benutzt, was man wiederum im Ministerium nicht goutierte.
Nun, da er fortgelobt worden war, trat Oberstleutnant Schröder, ein dem Sozialismus wie dem Ministerium in jeder Hinsicht treu ergebener Soldat die Nachfolge als Kommandeur des IBR-12 an.
Seine Antrittsrede bestand aus militärisch kurzen, abgehackten Sätzen.
Hätte Wilfried über seine bis vor kurzem noch bewahrte geistige Distanz zum Geschehen verfügt, wäre ihm die Überforderung des OSL Schröder mit der neuen Aufgabe sofort aufgefallen. Statt dessen verknüpfte er mit seiner Aussage „Wie die Verpflegung, so die Bewegung“ die Erwartung, daß unter seiner Führung sich die angespannte Nahrungsmittelsituation bald bessern würde.
Zurück in der Unterkunft ließ Egon Blauw seine Kompanie in den Clubraum einrücken.
Dieser 1. März, er war zugleich der Tag seiner der Nichtbeförderung zum Leutnant.
Alle waren sie sich einig: Das war ungerecht!
Bei der Ansprache Oberfähnrich Mahlmanns im Klubraum gab dieser der Hoffnung Ausdruck, daß die Regimentsführung recht bald die besonderen Verdienste des Kompaniechchefs der TIBK anerkennen und die allfällige Beförderung nachholen möge.
Applaus brandete
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