Variationen zu Emily
war.
Die Schlinge zog sich enger, das fühlte er. Nur noch wenige Tage hier drin, und er würde ihr alles sagen. Würde ihr sein Herz ausschütten, weil er sich einsam, unglücklich und krank fühlte und sie die einzige Person war, die sich wirklich mit ihm beschäftigte. Sie gab ihm das Gefühl, mehr zu sein als eine Krankenakte und eine Nummer mit Verpflegungsanspruch und Aufpasser vor der Tür. Sie mochte ihn, das fühlte er. Warum war er ihr nicht früher begegnet? Er hätte jemand anderes sein können, w enn er sie an seiner Seite gewusst hätte.
Aber seinesgleichen hatte nie die Chance, die Barriere zwischen dem Slum draußen und der liberalen Gesellschaft der inneren Stadt zu durchbrechen, in der die Herkunft nur noch eine geringe Rolle spielte. Doreens Eltern mochten aus dem Südosten Europas stammen, aber sicherlich hatten sie diesen Staat und diese Stadt als ihre neue Heimat akzeptiert und sich wenigstens äußerlich die hier geltenden Regeln zu eigen gemacht. Sicher war sie schon früh in der deutschen Sprache unterrichtet, in eine vernünftige Schule geschickt und auf hiesige Verhaltensregeln aufmerksam gemacht worden. Bei ihm hingegen lag das Dorf, in dem seine Eltern geboren worden waren, wie eine Sklavenkette um seine Fußgelenke. Er konnte nicht laufen und springen in diesem eigentlich recht schönen und so reichen Land, sondern nur hindurchschlurfen. Und was kann man schlurfend schon erreichen?
Die alte Heimat galt in seiner Familie als das Gelobte Land, das nur aus Not vorübergehend verlassen worden war. Jede Arbeit, jede Tätigkeit, ja jeder Atemzug war dem Vorhaben gewidmet, wieder zurückkehren zu können zu Sprache, Sitten, ehemals Bekanntem und Gewohntem. Es war die Geschichte aller Mitglieder der Elterngeneration, die dort draußen kläglich am Stadtrand wohnte. Sie träumten von einer triumphalen Rückkehr, von großen Festen und einem Lebensabend in einem idyllischen Dorf. Doch bei allen waren nach den vielen Jahren diese Träume mittlerweile vergoren und sauer, wenn sie es auch niemals zugeben würden.
Sie träumten immer noch, aber im Innersten fürchteten sie, dass sie die Verwirklichung niemals erleben würden. Sie hatten sich und ihre Kinder, denen die Geschichten von Meer, Sonne, Wärme und geruhsamem Leben mit der Muttermilch eingeflößt worden waren, im Laufe der Zeit in eine Sackgasse manövriert, aus der es kaum noch einen Rückweg gab. Und sie wussten es. Ihre Wahl, ihr Beharren auf einer längst verlorenen Identität hatte sie zu ewigen Verlierern in einer Gesellschaft gemacht, die liberal genug war, um Individualität und Eigenständigkeit zu schätzen, die aber die verachtungsvolle Ablehnung von aktuellen Lebensmustern und Regeln nicht zu Unrecht als Angriff auf das eigene Selbstverständnis und Weltbild auffasste.
Schale Träume riechen nicht nur schlecht, sondern besudeln auch den darauf folgenden Tag. Manches davon war ihm hier im Krankenhaus bewusst geworden, und ihm wurde ganz heiß bei der Vorstellung, was aus ihm werden könnte, wenn er all das hinter sich ließ. Es war schon fast zu spät, aber er witterte eine Chance. Und dann schreckte er wieder zurück. Es waren seine Leute, er gehörte zu ihnen und war für sie verantwortlich, ob er es wollte oder nicht.
Er hasste das Ghetto, er hass te den Ablauf seiner Tage, er hasste seine Eltern und die kriminellen Freunde und die Verwahrlosung des Viertels, die jeden Tag zunahm. Aber er konnte sie nicht verraten. Sie waren das einzige, was ihm Persönlichkeit verlieh und ihn zu dem Valerio machte, der er war. Wenn er aber die Ketten abwarf, war er ein Nichts im Weltall, das erst dann wieder eine Identität erhalten würde, wenn es individuelle Eigenschaften entwickelte und eigene Leistungen vorweisen konnte. Vor diesem freien Schweben in der Schwerelosigkeit fürchtete er sich.
Seine einzige Chance bestand in der Flucht. Er hatte die Frage nach Doreens Waffe nicht ohne Hintergedanken gestellt. Sein in den seltenen kopfschmerzfreien Zeiten konzipierter Plan sah vor, sie zu küssen und ihr dabei die Pistole wegzunehmen. Mit so einem Ding würde er sich zur Not den Weg aus dem Krankenhaus freischießen. Er sah das Bild vor sich, wie er, muskulös und im Unterhemd – genau wie Sylvester Stallone – im Treppenhaus erst den Wachmann und dann eine Schar von kräftigen Krankenpflegern ausschalten würde. Aber sie trug anscheinend nicht einmal ein Taschenmesser bei sich. Er musterte die karge Ausstattung des Raumes. Ein
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