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Variationen zu Emily

Variationen zu Emily

Titel: Variationen zu Emily Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Saarmann
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warteten. Als er das erkannt hatte, hielt er einen Moment inne und blickte gehetzt um sich. Sein Brustkorb hob und senkte sich in schneller Folge. Hinter ihm kamen die Treiber näher, und vor ihm setzten sich einige untersetzte Gestalten in Bewegung, um ihn einzukreisen. Der Junge schien einen Entschluss gefasst zu haben. Vor einem alten, leerstehenden Gebäude, einer ehemaligen Süßwarenfabrik, stand das Zelt einer Elektrizitätsfirma. Halb verdeckt davon schwang die altersschwache Tür in rostigen Angeln. Bei leichten Windstößen war das Quietschen deutlich zu hören. Hier schien der einzig mögliche Weg aus dem Gefängnis des Platzes zu liegen, und ihn wollte er wohl erreichen.
    Wie ein Wildtier schoss er zwischen den Reihen seiner Jäger hindurch und hetzte auf das Zelt zu. Leo meinte ein leises „Scheiße“ zu hören und sah dann, wie sich alle Taxifahrer in Bewegung setzten. Es war ein nahezu vollkommener Kreis, dessen einzige Öffnung am Zugang zu dem abbruchreifen Haus lag. Viele schnelle Schritte klapperten über das Pflaster, man hörte Rufen und Keuchen. Jetzt hatte der Junge nur noch wenige Meter bis zur Baugrube. Er senkte den Kopf, versuchte nochmals zu beschleunigen, um Anlauf zu nehmen, und sprang. Das Zelt knickte unter ihm ein, und er verschwand um sich schlagend in dem über ihm zusammenschlagenden Gummigewebe. Leo saß wie versteinert auf dem Bordstein. Warum hilft ihm denn keiner? Wo war die Polizei? Er wollte schreien, aber es kam nur ein Krächzen heraus. Plötzlich sah er einen Schatten durch die klapprige Tür huschen. War er das gewesen? Hatte er es geschafft?
    Die ersten Taxifahrer kamen an der Baugrube an, durchwühlten die Zeltplane und standen dann unschlüssig vor dem Haus, bis eine weitere Gruppe eintraf. Ein Mann mit krausen Haaren und einem Zappa-Bart schrie heftig gestikulierend Befehle, worauf fünf von ihnen in das Haus eindrangen und eine andere Gruppe sich auf den Weg zur nächsten Gasse machte. Sie sollte wohl einen möglicherweise vorhandenen Hintereingang sichern. Der Rest sammelte sich vor der Haustür. Feuerzeuge blinkten auf, als Zigaretten angezündet wurden. Im Licht der kleinen Flammen sah Leo ganz gewöhnliche Gesichter, ruhig und gelassen, nur ein wenig erhitzt von der Lauferei. So also sahen Menschen aus, die töten wollten.
    Im Haus ertönten Schreie, eine Tür fiel krachend zu und wurde krachend wieder aufgestoßen. Dann splitterte Glas, und eine dunkle Gestalt sprang aus einem Fenster im fünften Stock. Einen Augenblick schien sie vor der Hauswand zu schweben, die Arme in einer Imitation des Fliegens ausgebreitet. Dann stürzte sie ab und landete mit einem dumpfen Geräusch in der Baugrube. „Jetzt brauchen wir nur noch zuzuschütten“, sagte die ruhige Stimme aus dem Schatten der Hauswand neben ihm, und gemessene Schritte entfernten sich.
    Leo schüttelte den Kopf, um das Summen daraus zu vertreiben. Er wurde sich bewusst, dass er weinte. Die Tür hinter ihm ging auf, und viele Stimmen drangen in die Nacht. Plötzlich hockte Sabrina neben ihm. „Was war das?“ fragte sie entsetzt und umschlang seinen Hals. „Haben sie dir etwas getan?“ Er lehnte sich an sie, atmete ihren Duft ein und empfand wieder einmal, wie tröstlich es war, nicht allein zu sein. „Nein, nein“, sagte er mit brüchiger Stimme, „sie haben nur einen Jungen zu Tode gehetzt. Mit mir ist nichts.“
    Sie atmete auf, als wäre der Junge ein Fischlein, dessen naturgemäße Bestimmung es war, im Rachen eines Hais zu landen. Angesichts dieser Reaktion empfand er zum ersten Mal etwas wie Zorn auf diese seltsame Frau. Gleichzeitig übermannte ihn ein Glücksgefühl, weil offensichtlich nur sein Wohlergehen zählte. „Ich wäre schon früher gekommen“, flüsterte sie an seinem Hals. „Aber wir durften nicht raus. Da stand ein Typ direkt vor der Tür, der wild mit einem Schlagstock fuchtelte. Aber du weinst ja. Bist du verletzt? Tut dir etwas weh?“ Trotz des Elends, das ihm sein Inneres verseuchte, musste er lächeln. „Ein anderer fuchtelnder Typ hat mir eins aufs Bein verpasst“, sagte er. „Du wirst mich wohl tragen müssen.“
    Sie ließ ihn los, sah ihn prüfend an und antwortete: „Auf Knien bis ans Ende der Welt, wenn es sein muss. Los, junger Mann, wir gehen zu mir. Die Premiere darf nicht verschoben werden, sonst wird das Publikum ungeduldig.“ Und sie ging auf den Taxistand zu, wo jetzt wieder Hochbetrieb herrschte. Blaulicht zuckte über die Häuserwände.
     

32.

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