Variationen zu Emily
heran. Wir saßen immer nebeneinander, manchmal Hand in Hand, und für euch muss klargewesen sein, was sich da anbahnte. Stimmt, oder? Komm, bestellen wir uns noch eins. Du rauchst nicht mehr? Was? Weil deine Freundin aufgehört hat? Ist ja süß. Die ist doch gar nicht mehr da! Na ja, wie du meinst. Danke, Andrea.
Eines Abends jede nfalls hatte ich das Gefühl, dass ich doch einmal einen ernsthaften Versuch unternehmen müsste. Ich war wieder leicht angetrunken, blendend gelaunt und fand das Mädchen neben mir trotz seiner Ichbezogenheit entzückend. In all dem Lärm hätte wohl ohnehin keiner verstanden, was ich ihr sagte. Trotzdem lehnte ich meinen Kopf an ihren und fragte sie leise, ob sie nachher mit zu mir kommen wollte. Sie blickte weiter geradeaus, dachte kurz nach – und schüttelte dann langsam den Kopf. Na ja, tut nichts, dachte ich und beschloss, ein wenig enttäuscht, meiner Zuneigung Zügel anzulegen. Doch da schmiegte sie sich an mich und sagte: „Du kannst mich ja mal besuchen kommen. Manchmal bin ich bei meinen Eltern. Ich rufe dich an.“
Es dauerte wieder ein paar Wochen, und jetzt wurde mir die Zeit lang. Ihre Einladung lag wie ein ungeöffnetes Paket in meinem Kopf herum – was da wohl drin war? Bestimmt die lang ersehnte Märklin-Eisenbahn! Ich fing an, mich ganz unvernünftig nach diesem einen besonderen Zusammentreffen zu sehnen, obwohl wir uns nach wie vor in der Kneipe sahen. Aber sie spielte nie auf unsere Verabredung an, und ich wagte nicht zu fragen. Ich wollte sie nicht bedrängen. Doch schließlich kam der Anruf. Sie erreichte mich in der Redaktion, und meine Kollegen müssen an einen unverhofften Lottogewinn geglaubt haben, als ich auflegte und mit rotem Kopf einmal um meinen Schreibtisch tanzte. Ihre Eltern waren über das Wochenende zu Verwandten gefahren. So hatte sie ihrem Freund gegenüber die Ausrede, das Haus hüten zu müssen.
Es war ein ziemlich gewöhnliches Einfamilienreihenhaus aus den frühen Siebzigern. Man kennt das. Wir sind ja alle in ähnlichen Behausungen groß geworden. Unten schön bürgerlich eingerichtetes Wohnzimmer mit ein paar kopierten Impressionisten, dem üblichen Riesenfernseher, Stereokompaktanlage, dazu Küche und Gäste-WC mit Frotteeumrandung. Darüber drei eher schlichte Räume und ein Bad. Das Dachgeschoß war wohl ausgebaut, denn es führte eine richtige Treppe nach oben. Aber dahin bin ich nie gekommen. Sie trug die Art Kleidung, die sie immer trug. Pulli über T-Shirt, Jeans. Ich war ein wenig enttäuscht, dass sie meiner Phantasie so wenig entgegenkam, die mir einen an den richtigen Stellen klaffenden Morgenrock vorgegaukelt hatte.
Wir saßen im Wohnzimmer, der Fernseher lief ohne Ton, und es war ungefähr so behaglich wie in einem Baucontainer. Immerhin gab es gutes, gekühltes Bier. Es wurde später und später, sie sprach monoton von sich und ihrem wohl nicht sehr lustigen Leben, und ich begann mich zu langweilen. Wie gesagt: Es war viel Irritierendes an ihr. Zu ihrer Egozentrik und Hypochondrie kam die seltsame Angewohnheit, gelegentlich ihren Oberkörper in eine schnelle, rotierende Bewegung zu versetzen, so da ss ihre Brüste schwangen. Schöne, volle Brüste. Aber sie so zur Geltung gebracht zu sehen machte mich nicht gerade scharf. Es war wie in einem dieser albernen Filme mit Marilyn Monroe, die auch mit etwas vulgären Bewegungen ihre Weiblichkeit zu unterstreichen pflegte. Aber das war eine verzeihliche Marotte in ziemlich alten und belanglosen Filmen, in denen eigentlich noch Theater gespielt wurde. Hier dagegen saß eine echte, erwachsene Frau, die sich wohl ihrer Körpersprache nicht bewusst war.
Nun, ich hatte schließlich genug. Ich trank mein Bier aus, stellte die Flasche mit e inem deutlichen, meinem Überdruss Ausdruck verleihenden Geräusch auf dem Mahagoni imitierenden Tisch ab und wollte gerade aufstehen, da schoß sie aus dem Raum und kam mit einer neuen Flasche aus der Küche zurück. Und als sie sie vor mich hinstellte, geschah ein Wunder. Eine andere Frau schaute mich an. Ihr Gesicht, das sonst eine eher herbe Schönheit mit klaren, harten Linien aufwies, hatte sich vollkommen entspannt und zeigte jetzt geradezu liebliche, weiche Rundungen. Aus Ecken waren Kurven geworden. Aber das Tollste: Auch ihre Augen veränderten sich. Jetzt, in ihrer großen Müdigkeit, wurde aus dem üblichen Braun ein warmes, changierendes Grün. Sie sah wirklich hinreißend aus, maskenlos, schutzlos ihrer Erschöpfung ausgeliefert. Mir
Weitere Kostenlose Bücher