Variationen zu Emily
wurde klar, unter was für einer Anspannung sie normalerweise stehen musste, wenn sie sich so verbarg, und was für eine Kraft sie für ihren Schutzpanzer aufwendete.
Es klingt komisch, aber in mir wurden Beschützerinstinkte wach. Ich war gekommen, um sie zu entwaffnen – nun entwaffnete sie mich mit ihrer Verwandlung. Ich konnte meinen Blick nicht mehr von diesem schönen Wesen wenden, trank also noch ein weiteres überflüssiges Bier und ging schließlich in den frühen Morgenstunden nach einer liebevollen Umarmung und einem leisen, zärtlichen Kuss auf die Wange. Beschützen, umhegen, bewahren. Das war mein ganzes Wünschen – keine Spur mehr vom einfachen: Mann will Frau. Ich war von diesem einen zauberhaften Anblick süchtig geworden.
Ich konnte wieder mal nicht viel tun, war abhängig von den Gelegenheiten, die sie uns schaffte. Also sahen wir uns manchmal in der Kneipe, wo sie ihre eiserne Gesichtsrüstung trug, telefonierten sehr selten und waren wohl beide unsicher, wie diese Bekanntschaft – denn mehr war es ja noch nicht – sich entwickeln sollte. Ihr Leben befand sich in einem Umbruch, wenn sie auch nie darüber sprach. Sie erwog, ihren Freund zu verlassen und sich eine eigene Wohnung zuzulegen. Ich war in ihren Augen wohl eine Option für die unbekannte Zukunft, die sie sich vorzustellen begann. Aber sie zögerte noch – mit jeder Entscheidung.
Es gab ein weiteres Zusammentreffen bei ihren Eltern, die hilfreich wieder irgendwo unterwegs waren. Es war wie beim ersten Mal – der Fernseher ohne Ton, leise Musik aus den Boxen. Diana Ross war es wohl, die sie liebte und immer wieder hören konnte. Bier war da, ich saß wie zuvor auf dem Sofa, sie gegenüber auf einem pummeligen Sessel, und wir plauderten. Das heißt, sie sprach. Heute würde ich sagen, dass sie nicht nur egozentrisch, sondern auch dumm war. Ihre Erzählungen waren furchtbar banal, und sie merkte nicht, wie mir die Pein in die Muskulatur kroch.
Nun, es wurde wieder sehr spät, und für mich kam nun endlich die Zeit für eine Entscheidung. „Weißt du“, sagte ich, „wenn du willst, dass ich bleibe, musst du mir schon ein kleines Zeichen geben.“ Sie zögerte wieder lange, wechselte das Thema, sprach noch eine Weile von ihrem Studium. Doch dann kam sie zu mir hinüber, setzte sich auf meinen Schoß und sagte einfach: „Bleib bei mir.“ Und sie presste sich fest an mich. Ich nahm sie in die Arme wie ein Kind, das man trösten will, so voller Angst und Scheu schien sie zu sein. Dann sprang sie plötzlich auf, holte mir noch ein Bier – Himmel, ich trank wirklich ganze Gallonen an diesen Abenden – und polterte die Treppe herauf. Sie wollte wahrscheinlich ihr Schlafzimmer noch aufräumen, bevor der fremde Gast Besitz davon ergriff.
Als sie wieder herunter kam, trug sie nur noch T-Shirt und Slip, und ihre Brüste schwangen jetzt auch ohne ihr Zutun. Sehr ansehnlich in der rudimentären Umhüllung, diese Frau. Wenn mir auch auffiel, dass irgendetwas an ihren Proportionen nicht ganz stimmte. Heute weiß ich, dass ihre Unterschenkel im Verhältnis zu ihren Oberschenkeln etwas zu kurz waren. Doch trotz dieses leisen Misstons fast außerhalb der Hörgrenze fühlte ich mich von ihrem Körper angezogen. Wir gingen hoch in ihr Mädchenzimmer, das seit ihrem Auszug wahrscheinlich nur wenige Veränderungen erlebt hatte. Da hingen noch die Jugendposter an der Wand, darunter Diana Ross und eine andere schwarze Schlagerdiva. Puppen saßen säuberlich aufgereiht auf der weiß und rosa lackierten Kommode, und auf der Bettwäsche prangte Mickey Mouse in fünfzigfacher Lebensgröße. Hm. Wie groß war das Vieh eigentlich wirklich?
Egal. Sie lag still auf dem Rücken, hatte die Augen geschlossen und erwartete mich. Und so blieb sie: unbeweglich, in sich zurückgezogen, ohne Reaktion auf meine Zärtlichkeit. Das machte mir zunächst nichts aus. Es war schön, sie anzufassen. Aber es war seltsam asexuell – wie das Kosen eines weichhaarigen, schnuppernden Hasen, der ängstlich die Ohren anlegt und vor Furcht erstarrt ist.
Da lag eine fast nackte Frau neben mir im Bett, und bei mir rührte sich nichts. Ich machte sanft weiter, fragte mich aber doch, wo meine Hemmung ihren Ursprung hatte. War es, weil sie so unbeteiligt blieb? Oder störte sich irgendetwas in mir an irgendetwas an ihr? Oder war ich einfach zu betrunken? Ich kam zu keinem Schluss. Da sie mir in dieser Nacht nichts abverlangte, war mir die Antwort zunächst auch ziemlich egal. Mit
Weitere Kostenlose Bücher