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Variationen zu Emily

Variationen zu Emily

Titel: Variationen zu Emily Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Saarmann
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dafür ihr wahres, ihr verletzliches Gesicht einmal gesehen. Danach gab es für mich wohl nichts mehr zu holen. Tja. Sie ist inzwischen verheiratet und hat zwei Kinder mit einem Mann, dem mindestens ein Sinnesorgan fehlt. Mann, schon halb zwei! Lass uns gehen, oder? Andrea, bis morgen!
     
     

13. BRONX
     
     
    Der Fahrer hantierte umständlich mit dem Taxameter, stellte im Radio einen lokalen Sender mit täglich vierundzwanzig Stunden Gute-Laune-Musik ein und setzte sich in seinem verschlissenen Sitz zurecht. „Wo also solls hingehen?“ Thomas wiederholte ungeduldig die Adresse. „Ist das Ihr Ernst? Da wohnen doch nur Kanaken.“ Der feiste Mann wandte sich um, sein fettiger Pferdeschwanz fegte über die Rückenlehne. „Da ist es abends manchmal nicht geheuer, Kumpel.“ Zugeschwollene Augen mit stecknadelkopfgroßen Pupillen, braunviolette, runzlige Haut drumherum – Thomas fragte sich, ob eine Fahrt mit diesem zugedröhnten Mann nicht ohnehin ein gewisses Gefahrenpotential barg. Aber dann lehnte er sich zurück und sagte: „Nun fahren Sie schon!“
    Beim Anfahren rasselte es heftig im Getriebe, doch der Wagen nahm Fahrt auf. Die Stoßd ämpfer waren derart hinüber, dass sie sich schlingernd vorwärtsbewegten wie ein Blimp im Windkanal. Die Ventile klapperten, als der Fahrer viel zu früh in den dritten Gang schaltete. Wenn die Reifen im gleichen Zustand waren wie der Rest des zerlumpten Vehikels, war das bei diesem nasskalten Wetter und dem allgegenwärtigen matschigen Laub eine Garantie für eine Rutschpartie. Aber trotz dieser Befürchtungen meisterten sie ohne Zwischenfälle die im Rahmen des Programms „Unsere Stadt soll leben“ neuerdings wieder kopfsteingepflasterten Straßen der Altstadt, gelangten auf den Stadtring und wandten sich den Außenbezirken zu, in denen Andrea wohnte.
    Das war eine Gegend, in denen zur Freude der ortsansässigen Architekten und Bauunternehmer reiner Beton ohne störende Zutaten verwendet worden war – wenn man von der abblätternden, stumpfen Farbe absah, die in verschiedenen Tönen die Hauseingänge und die Balkonaußenwände schmückte, damit die Bewohner ihren eigenen zwölfstöckigen Wohnblock identifizieren konnten. Man konnte sich unschwer eine Unterhaltung zwischen einem Jungen und einem Mädchen vorstellen: „Und wo wohnst du?“ – „Ach, da drüben, in Rostbraun.“ – „Oh, das ist ja gleich neben mir! Ich wohne in Verwesungsgrün.“
    Zwischen den parabolantennengespickten Häusern war ein Abstand von einigen Metern gewahrt worden. Diese lichtlosen Schluchten hatten wahrscheinlich im Modell die Illusion einer mäandernden Parklandschaft mit viel grüner Rasenfläche, stattlichen Bäumen und flankierendem Buschwerk erzeugt. Tatsächlich konnte hier unten keine irdische Pflanze gedeihen. Das scheckige Gras war von Zivilisationsmüll bedeckt, und die paar zerrupften Sträucher erinnerten an die Vegetation in Filmen, die die Erde nach einem verheerenden Atomkrieg zum Schauplatz hatten.
    Ein ähnlich anheimelndes Ambiente wurde häufig im Fernsehen gezeigt, wenn über sogenannte soziale Brennpunkte berichtet wurde. Sie befanden sich am Rande einer mittelgroßen deutschen Stadt. Doch auch hier standen räderlose Autowracks am Straßenrand, aufgebockt auf quaderförmigen Ziegelsteinen. Auch hier war eine tropische Graffitivegetation aufgeblüht, die sich über allem ausbreitete, was Sprühdosenfarbe halten konnte. Und auch hier sahen die wenigen Spielplätze aus wie die Überbleibsel einer untergegangenen, von lebensuntüchtigen Wesen beherrschten Maschinenwelt. Hier also wohnte Andrea, dieses sehr hübsche und gepflegte Mädchen.
    Alle Menschen raus hier, dachte Tom, als sich das Taxi durch ununterscheidbare Straßenschluchten wand. Und dann eine Panzerartilleriekompanie der Bundeswehr auffahren lassen: Feuer frei auf diese Behausungen. Er malte sich die umwerfende Wirkung der großkalibrigen Granaten auf diese so menschenfreundlich in die Höhe getürmten Hasenställe aus, sah die Bewohner zuschauen und bei jedem gelungenen Schuss mitten in die zerfressenen Betonfronten fröhlich applaudieren. Er dachte an verschiedene Katastrophen, die die Fragilität derartiger Konstruktionen offengelegt hatten, und fragte sich, warum deutsche Architekten selbst in den armseligen dreißiger Jahren noch Unterkünfte hatten zusammenfügen können, die menschliches Maß hatten und sich einigermaßen an den Bedürfnissen der Bewohner orientierten. Spengler fiel ihm ein, der

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