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Variationen zu Emily

Variationen zu Emily

Titel: Variationen zu Emily Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Saarmann
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peinlich. Klar, entsprach nicht unserem gerade erworbenen Status als junge Erwachsene.
    Komisch, dass man in diesem Alter viele Erinnerungen an die Kindheit am liebsten im Marianengraben versenken würde, wo er am tiefsten ist. Man hasst die Alten geradezu, wenn sie darauf herumreiten. Ach, war das süß, wie du mit vier Jahren versucht hast, das Dreirad deiner Cousine zu besteigen. Scheiße, ja, man erinnert sich und wird verlegen wegen der unwürdigen Rolle, die man damals gespielt hat. Du kennst das sicherlich auch. Man schämt sich, mit der Mutter einkaufen zu gehen, weil man dann grundsätzlich als Kind behandelt wird.
    Nun ja. Zu der unterdrückten Vertrautheit kam ein natürliches erotisches Interesse hinzu, was uns noch mehr zurückschrecken ließ. Da waren plötzlich Brüste, lange, muskulöse Beine und ein weiblich gerundeter Körper. Dinge, die das vermeintlich Vertraute ein wenig unheimlich wirken ließen. So wie ein jahrelang gehätscheltes Kuscheltier, von dem man plötzlich nicht mehr weiß, ob es nicht heimlich nachts ei n grauenhaftes, geiferndes Gebiss entblößt, um dir damit den Hals zu zerfleischen. Du kennst ja diese hässliche Zeit, die nur aus Alpträumen, bedrohlichen Neuheiten und lauernden Gefahren zu bestehen scheint. Wir kamen jedenfalls nicht zusammen. Zunächst wegen unserer Schüchternheit und Angst und später wegen der diesem Alter eigenen Leichtfertigkeit.
    Andrea, ich nehme noch eins! Und du? Und noch einen Tequila, bitte. Ein Wasser dazu? Nein? Gut. Ich zog nach dem Abitur in die Kreisstadt und besuchte die Universität, während sie blieb und irgendeine Ausbildung absolvierte. Schon dadurch verloren wir uns aus den Augen. Dazu kam, dass meine Eltern im Norden des Städtchens ihr Reihenhaus kauften, während Annas Eltern eine Doppelhaushälfte im Süden erwarben. So endete auch die Nachbarschaft unserer Eltern. Diese späten Sechziger waren wirklich eine seltsame Zeit. Es fand ein Exodus statt, eine Wanderung ins gelobte Land. Fast alle unserer Nachbarn zogen aus den mittelprächtigen Mietshäusern unserer Kindheit in diese genormten Reihenhäuser, die im nahen Umland aus dem Boden wuchsen. Eine Heimat mit engen Beziehungen ging verloren. Und nicht nur für uns. Auch für unsere Mütter und Väter muss es eine Entscheidung zwischen einem gut funktionierenden sozialen Umfeld und der Notwendigkeit zur Darstellung eines gehobenen gesellschaftlichen Status gewesen sein.
    Der mittlere Mittelstand verspürte plötzlich den Zwang, sich abzugrenzen gegenüber den armen Schweinen, die es trotz Wirtschaftswunders nicht geschafft hatten. So machte diese eigentlich wenig risikofreudige Schicht für ein paar Betonwände mit einem Walm- oder Satteldach obendrauf Schulden. Ich für mein Teil glaube, daß alle dort hätten bleiben sollen. Es ging ihnen gut, auch wenn wir ein wenig beengt wohnten. Aber es gab eine Nachbarschaftshilfe, von der die meisten Menschen heute nur noch träumen können. Die Frauen hatten ihre Freundinnen nahebei, die Kinder spielten miteinander und gingen gemeinsam zur Schule, die Männer veranstalteten am Wochenende gemeinsame Grillfeste und spielten Skat. Eine gewachsene Infrastruktur eben. Jeder war bereit, dem anderen mit Eiern und Butter auszuhelfen. Oder auch mal für ein paar Stunden die kranke Großmutter zu betreuen und das Kind der anderen Familie zu übernehmen. Schau dir dagegen mal diese modernen Einfamilienhausidyllen an. Autarkie, Individualismus, Abgrenzung, Abwehr. Aber wenn es ihnen schlecht geht, sind sie auf sich allein gestellt und verlangen nach staatlicher Unterstützung. Die Kinder werden einzeln mit dem Auto zur Schule im Nachbarort gefahren!
    Gut, lassen wir das. Ist wahrscheinlich auch nur eine verklärte Reminiszenz, die aus der Kindheit heraufscheint. Also Anna. Ich wohnte hier seit ein paar Monaten in meinem Einzimmerappartement, hatte mich von meiner Freundin getrennt und fühlte mich ziemlich allein. Das Studium, gelegentlich stattfindende abendliche Saufereien mit den Kommilitonen und die nur nach Kubik- oder Festmetern zu bemessende konsumierte Literatur füllten mein Leben nicht aus. Ich langweilte mich und blätterte in alten Briefen, Tagebuchaufzeichnungen und Fotoalben. Da stieß ich auf ein Bild von Anna, das sie mir im Alter von vierzehn oder fünfzehn bei einer unserer seltenen Begegnungen geschenkt hatte. Es war von ihrem Vater aufgenommen worden, der wohl damals in Fotographie dilettierte und glücklich war, ein so gelungenes

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