Variationen zu Emily
Modell in seiner eigenen Familie vorzufinden. Ich sah ein außergewöhnlich schönes, brünettes Mädchen im Halbprofil, leicht verfremdet durch die altertümelnden Sepiatöne, die man in den siebziger Jahren wohl für en vogue hielt. Ich muss dir das Bild mal zeigen. Jeder hätte sich in sie verliebt. Und ich kannte ihre Haut, ihr Lachen, ihren Duft. Als Kind.
Das Bild bekam plötzlich ein eigenes Leben. Ich spürte ihren Atem, ihre Wärme, und ich konnte förmlich sehen, wie sie sich nach mir umdrehte und lächelte. Es war wie ein Stoß, den dir ein lebendiger Mensch versetzt. Du kennst das sicher. Man sehnt sich, vor allem abends. Man möchte etwas Lebendiges, Sanftes und gleichklingend Denkendes an seiner Seite. Man verzehrt sich nach einem anderen, duftenden und beflügelnden Leben neben sich. In diesem Alter kann das zu einer Phobie werden. Bei mir, allein in meiner abgeschiedenen Bude, wurde eine ziehende Verliebtheit daraus.
Andrea! Bitte noch zwei Bier. Was, du nicht? Ach so, noch einen Tequila. Ehrlich? Meinst du nicht, dass du übertreibst? Also ein Bier und einen Tequila, Andrea.
Ich schrieb ihr einen Brief. Ihre Adresse hatte ich aus dem Telefonbuch. Erschien mir einfacher, als anzurufen. Wenn sie kein Interesse hatte, konnte sie einfach ihren Altpapierbehälter damit füttern. Außerdem schrieb ich damals gerne. Ich erzählte ihr, womit ich meine Tage füllte, fragte nach ihrem Werdegang und schloss damit, dass ich sie um eine Begegnung bat. Irgendetwas wie: Schade, dass wir uns nicht mehr so gut kennen. Wider Erwarten reagierte sie, und sie reagierte schnell. Ebenfalls per Brief. Ja, sie würde mich auch vermissen. Es folgten ein paar Absätze über ihren Beruf und ihr Privatleben. Sie war liiert mit einem Typ aus dem Ort, ging gerade mit ihm zur Tanzschule und arbeitete bei einem Wirtschaftsprüfer. Oder so ähnlich. Es klang nicht besonders aussichtsreich. Aber das Ende entschädigte. Sie würde mich gerne wiedersehen, und sie malte neben ihren Namen ein X, was in unserer Jugend in der schriftlichen Korrespondenz für einen Kuss stand.
Na, ich will das nicht ausdehnen. Wir schrieben uns eine Weile einander entgegen, und schließlich holte ich sie mit meinem französischen Kleinwagen von ihrer Arbeitsstätte ab. Ich parkte direkt vor dem Bürohaus. Als sie herauskam, wäre ich am liebsten unauffällig verschwunden. Aber das ging nun nicht mehr. Man nimmt zu solchen Rendezvous ja immer ein Bild mit. Meines klebte im Fotoalbum und zeigte ein anmutiges, ein wenig scheues junges Mädchen. Was aber jetzt auf mich zukam, entpuppte sich als eine ausgewachsene, schöne junge Frau, die mir selbstbewusst lächelnd zuwinkte. Keine Spur von Schüchternheit oder ängstlicher Distanz gegenüber dem mittlerweile doch ziemlich fremden Mann. Angesichts dieser Harmonie in Form und Bewegung spürte ich meine unansehnlichen Fettansammlungen um Hüfte und Bauch, und ich wurde mir plötzlich meines schrottreifen Wagens bewusst, den ich sonst immer mit studentischem Hochmut durch die Gegend kutschierte.
Ich stieg aus und ging ihr entgegen, ebenfalls lächelnd. Dabei war mir wirklich bang zumute. Sie gab mir die Hand, sah mich lange an un d umarmte mich dann mit zwei Küsschen auf die Wangen. Du siehst gut aus, sagte sie. Wenn das schon gut ist, antwortete ich, was soll ich dann über dich sagen. Wir fuhren in den Nachbarort, weil sie in meiner Begleitung nicht Bekannten begegnen wollte. Es gab mir ein wenig Auftrieb, dass sie mit mir ein Geheimnis hatte. Wir suchten eine Kneipe in einem umgebauten Bauernhaus auf, das von Späthippies bewohnt und bewirtschaftet wurde.
Nein, so schlimm war es nicht. Es gab richtige Möbel, eine Theke mit allem, was die Kehle braucht, und sogar eine einigermaßen gepflegte Toilette. Jedenfalls am frühen Abend. Nur die Musik passte in die Zeit, als alle Welt sich die langen Haare mit Henna färbte, wild gefärbte Flokatiteppiche auch als Kleidungsstücke dienten und von jedem Hals eine angeblich indianische Kette baumelte. Es war noch früh. Da ich mich auskannte, trank ich zunächst schnell ein paar Bier und besuchte dann die sanitären Anlagen. Ich sah mich im Spiegel an und sagte mir: Das kann nichts werden. Gegen dieses Geschöpf bist du ein im Wald lebender Troll, ein Sumoringer oder eine ähnlich abschreckende Gestalt. Ich klatschte mir Wasser ins Gesicht und stürzte zurück in den aussichtslosen Kampf.
Sie war so offen und inter essiert, dass es mich irritierte. Ich war es
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