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Variationen zu Emily

Variationen zu Emily

Titel: Variationen zu Emily Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Saarmann
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gewohnt, dass nach den Präliminarien ein Sturzbach von Informationen auf mich herabprasselte, die nur ein wirklich Eingeweihter verstehen konnte. Du kennst das. Die Tante vom Vater hat einen Kanarienvogel, der krank ist. Benni hat sich das Bein gebrochen. Keine Ahnung, wer Benni ist. Mama ist mit Inge über Weihnachten nach Mallorca gefahren. Wer, zum Teufel, ist Inge? Und so fort. Nein, wir sprachen miteinander. Wir fanden unsere Wurzeln wieder und entdeckten, dass daraus unbemerkt ein Bäumchen entstanden war. Ich verliebte mich. Nicht unsterblich, zum Glück. Denn sie hatte einen Makel, den ich erst mit der Zeit wahrnahm. Sie sprach und blickte mich dabei mit ihren grauen, schimmernden Augen an. Und plötzlich zog sich ihr Mund zusammen, als hätte sie in eine Zitrone gebissen. Und diese schrumplige, rosige Blüte begann, langsam nach links rutschen. Bis zu einem unsichtbaren Punkt. Als wäre da ein Kontakt verborgen, erstrahlte wieder ihr Lächeln. Ein kleiner, irritierender Tic, der aber ausreichte, damit ich mich wieder satisfaktionsfähig fühlte.
    Trotz aller Ungezwungenheit brauchten wir eine Menge Zeit und viele Gläser Bier und Roséwein, um von unseren Gefühlen zu sprechen. Wir erzählten uns unsere vergangenen, unglücklich verlaufenen Liebesgeschichten in der für uns jeweils vorteilhaftesten Vers ion. Es stellte sich heraus, dass wir eigentlich schon vor Jahren hätten zusammenkommen müssen, weil wir beide uns das gewünscht hatten. Und wir bedauerten, dass wir damals nicht den Mut aufgebracht hatten, das Geflecht aus Angst, Hochmut und Peinlichkeit zu durchtrennen. Kommt dir das bekannt vor? Man ist ja so blöde, wenn man jung ist.
    Sie muss te schließlich nach Hause. Auf dem Weg zum Auto legte ich meinen Arm um sie, und sie lehnte ihren schönen Kopf an meine Schulter. Ich fühlte mich wie Napoleon, als er sich zum Kaiser krönte. Aber obwohl wir beide ziemlich angetrunken waren, wollte sie allein ins Bett. Sei mir nicht böse, sagte sie, aber ich bin nur noch müde. Lass uns das auf später verschieben. Ich brauche noch ein wenig Zeit. Also setzte ich sie ab und fuhr aufgekratzt heim. Ich glaube, ich machte mir noch ein Bier auf, um meine Siegerlaune zu feiern. Inmitten dieser ein wenig autistischen Feier schlief ich auf dem Sofa ein.
    Ach, schau mal. Die kenne ich doch. Na, die Schlanke an dem Tisch neben dem Schreiberling. Das Gesicht sagt dir nichts? Die war neulich zusammen mit Martha im Schützenhof, als Andrea die Hauptrolle in einem Shakespearedrama spielte. Hat schon was, die Frau. Eine Spartanerin, markant und gestählt. Na egal.
    Am nächsten Morgen rief sie aus ihrem Büro an. Sie klang frisch und erholt. Na, hast du einen Kater, fragte sie als erstes. Ja, hatte ich. Kannst du trotzdem heute abend zu mir kommen? Klar, dann hätte ich geduscht, noch ein wenig geschlafen, siebzig Eier mit Speck gegessen und ein erstes Bier getrunken. Ich ließ die Uni für den Tag Uni sein, erholte mich und schwitzte dabei vor Aufregung. Abends fuhr ich hin. Sie hatte eine ähnlich kleine Wohnung wie ich, aber wesentlich besser gefüllt. Teppiche, Sitzkissen auf dem Boden, drei kleine Sessel. Ein riesengroßer Fernseher – ein Geschenk von ihrem Freund, wie sie erzählte. Wahrscheinlich, damit er sich bei ihr auch heimisch fühlen konnte. Denn das hatte ich erfahren: Er war ein eher langweiliger, an wenigen Themen interessierter junger Mann, der gerade versuchte, als selbständiger Teeverkäufer eine Existenz aufzubauen. Sie gingen selten aus, redeten nur das Notwendigste, sahen viel fern und waren wohl am aktivsten im Bett. Allerdings mangelte es ihm auch da an Phantasie, denn sie sprach eher geringschätzig von dem abendlichen Ritual.
    An fast allen Wänden standen Regale, die mit Staubfängern der Marke kopfschüttelnder Hund oder fast altes Porzellan gefüllt waren. Da, wo keine Regale hinpassten, hingen Bilder von nackten oder unaufmerksam mit Pelzen beworfenen Frauen, zumeist aus Zeitschriften herausgetrennt und dann gerahmt. Trotzdem fühlte ich mich wohl in diesem Ambiente. Es wirkte wie ein ins Erwachsenenleben geretteter, riesengroßer Setzkasten. Es war fast wie in unserer Kindheit. Für die Rückkehr dieses Kindheitstraums fehlte nur noch der rote Arztkoffer aus Plastik. Ich sprach diesen Gedanken aus, und sie sagte lachend: Den brauche ich nicht mehr. Heute ziehe ich die Männer aus, wenn ich wissen will, was uns unterscheidet. Sie war wieder sehr schön und aufmerksam. Sie hatte sich

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