Variationen zu Emily
fleischfarbene, sich lautlos windende Tier hinunter. Er trank einen Schluck von der Milch und sah hinüber zum Wald, dessen Wipfel sich inzwischen klar gegen den Himmel abzeichneten.
Wieder lag ein Tag vor ihm, dessen Ende er seit dem Aufwachen ersehnte. Morgen würde er wieder zu arbeiten haben, aber auch diese Aussicht war alles andere als erfreulich. Und wenn er für eine Weile an einen anderen Ort ginge? Allein in einer Hütte auf einem Berg, Wasser aus dem vorüberfließenden Bach und Nahrung aus dem Wald. Beeren, Pilze. Fallen stellen, Schli ngen legen? Nein, der Körper musste auch ohne den Tod anderer Geschöpfe leben können. Er könnte manchmal den Berg herabgehen und ein Dorf aufsuchen, wo er die notwendigsten Lebensmittel kaufen konnte. Selbst das einfache Leben erforderte solange Geld, wie er keine eigenen Waren zum Eintauschen anzubieten hatte. Schnitzen konnte er, Körbe flechten hatte er gelernt, Steine behauen – altertümliche, heute wenig verbreitete Fähigkeiten, die ihm in der Schule viel Ansehen eingetragen hatten.
Die Sonne schickte einen ersten Kundschafter auf die Hauswand, die schamlos sogleich ihre Unebenheiten und die Sprünge im Putz offenbarte, als wollte sie ihn bloßstellen. Es war noch immer kühl, aber die Pflanzen begannen bereits zu duften und sich der hinter dem Wald emporsteigenden Sonne entgegenzurecken. Es würde heiß werden heute. Aus dem Haus drangen die ersten Geräusche: verhaltene Kinderstimmen, ein leises Poltern von kleinen Füßen auf dem Holzboden, eine quietschende Tür, die Wasserspülung der Toilette. Frank trank sein Glas aus, stellte es auf den Boden neben die Bank und trat auf die Straße. Ohne sich noch einmal umzudrehen, ging er los.
Gleich hinter dem Dorf begann ein steiler, fast überwucherter Pfad, der in die Berge hinaufführte. Er folgte ihm mit langen, gleichmäßigen Schritten. Trotz der sich unter den Bäumen noch haltenden Kühle schwitzte er, und er atmete schnell. Die große Menge des eingeatmeten Sauerstoffs entfaltete sich langsam in seinem Gehirn. Er erinnerte sich dieses leichten Schwindels. Damals hatte er noch regelmäßig getrunken, wenn auch selten viel und niemals Schnaps. Aber nach drei, vier Gläsern eines kühlen, trockenen Weißweins war ihm ähnlich zumute gewesen: als wäre die Welt reingewaschen, klar und sauber und leicht. Das Gehen fiel ihm trotz der Steigung nicht mehr schwer, der Atem wurde regelmäßiger, und der verdunstende Schweiß kühlte seine Haut.
Hier war sicherlich lange niemand gegangen. Es gab keine Spuren von menschlicher Anwesenheit: kein Müll, keine Fußspuren, keine Feuerstellen. Die Bäume sahen gelassen auf ihn herab, raschelten sich leise Botschaften zu und schienen keine Angst vor ihm zu haben. Ein Eichhörnchen lief rasch einen Stamm hinauf und ließ einen graubraunen Zapfen aus dem Vorjahr fallen, als es ihn nahen hörte. Auf halber Höhe zwischen Wurzelwerk und den ersten Ästen verharrte es, als wäre es neugierig, was für ein seltsames Wesen hier vorüberkam. Er lächelte, als er es sah, blieb eine Weile stehen und schaute es an. Es blickte aufmerksam zurück, alle viere in die Rinde geklammert, und begann, seinen buschigen Schwanz zu schwenken. B ei dieser niedlichen Drohung musste er lachen. „Ich bin ein Fremder auf der Flucht“, sagte er leise. „Tu mir nichts!“
Der Pfad wurde jetzt doch beschwerlich, da Ranken von Dornenbüschen hineingewachsen waren und die Steigung so zunahm, dass er an manchen Stellen die Hände zur Hilfe nehmen musste. Die Dornen zerrten an Kleidung und Haut, als wollten sie ihn zurückhalten.
Er achtete nicht darauf, denn ein Stück weiter oben sah er eine Lichtung grüngolden in der Sonne baden. Während er sich weiter aufwärts quälte und immer wieder an den blutigen Rissen auf Händen und Armen lutschte, beschimpfte er die Pflanzen gutgelaunt als „niederes Gestrüpp“, als „elendes, kriechendes Volk von vielarmigen Schattenwesen“ und als „minderwertige Kriegerbrut“. Sein Kopf schien reingefegt, von allem schweren, schmierigen Alltagsballast befreit. Er hätte singen können, wenn ihm ein Lied eingefallen wäre, das sich nicht mit menschlichem Leben, mit Liebe, Glück und Leid befasste. Nur ein Lied ohne Worte schien hier angebracht, und er begann zu summen. Im Moos unter einer gewaltigen Buche war etwas eingeprägt, das aussah wie ein großer Schlüssel – vermutlich der verrutschte Abdruck eines Tierfußes. Er nahm es als Zeichen. „Ja, ja“,
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