Varus - Historischer Roman
ohne sein Versagen zu beschönigen. Als er geendet hatte, schwieg der Statthalter, der ihn unverwandt betrachtete. Seine Mundwinkel hingen tief herab, wie Annius mit einem schnellen Blick unter den Wimpern hervor bemerkte. Centurio Caelius sah das richtig, er hatte den Tod verdient, auch der Statthalter würde zu keinem anderen Schluss kommen. Doch warum überließ er ihn nicht einfach seiner Strafe?
»Das alles hätte gar nicht erst so kommen dürfen«, sagte Varus rau, und es klang, als hätte er Mühe, die Worte hervorzubringen.
Annius hob den Kopf, blickte dem Statthalter ins Gesicht, er fühlte den Drang, sich zu erklären, seine Schuld zu bekennen, doch Varus winkte ab.
»Ich habe es so weit kommen lassen, Soldat«, fuhr er fort. »Vielleicht … wenn es nicht gerade Segestes gewesen wäre, der ständig um meine Leute scharwenzelte … Aber vielleicht habe ich auch das falsch eingeschätzt.«
Annius’ Nackenhaare sträubten sich, als er erkannte, dass er mit dem Statthalter allein war, so allein sie neben einem marschierenden Heereszug und einer in ausreichendem Abstand harrenden Leibwache nur sein konnten.
Plötzlich hob Varus den Kopf. »Wie lange bist du im Dienst, Titus Annius?«
»Achtzehn Jahre werden es im Winter.«
»Dann hättest du noch zwei Jahre, wenn du gemeiner Soldat wärst - und danach weitere fünf als Veteran.«
»Ich bin Beneficarius«, wandte Annius ein.
»Das weiß ich, daher wirst du die ganze Zeit dienen müssen. Aber als guter Schreiber schaffst du vielleicht auch den Aufstieg in den Stab eines hohen Offiziers.«
Betreten heftete Annius den Blick auf die dreckigen Spitzen seiner Sandalen. Caldus hatte ihm genau das verheißen, Caldus, den er vor den Häschern nicht hatte retten können. Er kämpfte mit der lähmenden Schwäche, die ihn befiel, reckte das Kinn und schaute in Varus’ dunkel überschattete Augen.
»Die Sache wird mich wohl einige Jahre kosten, in denen ich mich auf ein Landgut zurückziehen werde«, fuhr Varus fort. »Oder ich mache eine Reise in den Osten, besuche die griechischen Inseln und die ionische Küste. Meine Frau ist eine liebe Verwandte des Augustus, und wir haben einen Sohn, das rettet mich.«
Das dünne Lächeln, das Varus’ Lippen umspielte und die bartlosen Wangen glättete, machte Annius einmal mehr seine unwürdige Erscheinung deutlich; seit Tagen unrasiert und nur notdürftig gewaschen, ohne Tunica oder Schuhe gewechselt zu haben, bot er das gleiche schäbige Bild wie alle Kameraden. Über allem schwebte ein Dunst, gemischt aus dem Geruch von durchweichtem Leder und nasser Wolle,
Rost und altem Schweiß. Er stand einem Mann gegenüber, der mit Augustus befreundet war, der vor nicht allzu langer Zeit eine Nichte des Augustus geheiratet hatte, einem Mann, der vor über zwanzig Jahren den Consulat bekleidet und danach als Statthalter im Osten mit aufsässigen Völkern und machthungrigen Kleinkönigen gerungen hatte.
»Woher stammst du?«, fragte Varus unvermittelt.
»Aus Tarraco in der diesseitigen Hispania. Mein Vater handelt mit Wein.«
»Dieser heimtückische Verrat hat schon so vielen Vätern die Söhne geraubt … Der Vater des Gaius Caelius Caldus ist mein Freund, und ich habe ihm versprochen - ich habe ihm mein Wort gegeben, seinen Sohn zu hüten und ihm zu helfen, sich zu einem guten Mann und tapferen Soldaten zu entwickeln.«
Varus wandte sich zur Seite, um sich mit beiden Händen über das Gesicht zu fahren, barg es eine Weile darin, ehe er den Kopf wieder hob. Ein Soldat in Kettenhemd und Beinschienen, ein Reiter, war herbeigelaufen, stand mit dem Helm unterm Arm wenige Schritt entfernt atemlos bei einem der Schreiber aus Varus’ Stab, der die geflüsterte Botschaft entgegennahm, bevor er sich dem Statthalter näherte. Die düsteren Mienen verrieten, dass es neue schlechte Nachrichten waren. Varus ließ die Hände sinken und neigte ihm den Kopf zu, um zuzuhören, während der Schreiber leise zu ihm sprach. Der Bote war ihm gefolgt, nickte mehrmals zu den Worten des Schreibers, während Varus Schultern merklich herabsackten.
»Der schwerste Gang liegt wohl noch vor uns.«
Er sprach gerade laut genug, dass Annius es hörte und in dem jäh aufflackernden Drang, seinen Kameraden beizustehen, einen Schritt auf den Statthalter zu machte. Der
Schmerz traf ihn wie ein Messerstich, er knickte ein, fing sich mühsam auf.
»Ein Wall mit Palisade ist ein ernst zu nehmendes Hindernis, wenn ich mir den Zustand der Legionen anschaue«,
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