Varus - Historischer Roman
sagte Varus, während Annius weiterhumpelte. Als die Männer ihn bemerkten, blieb er stehen, schwer atmend und so aufrecht er sich nur halten konnte.
»Schickt mich zu den anderen zurück, Publius Quinctilius. Mein Platz ist dort, nicht hier!«
Doch der Statthalter schüttelte den Kopf. »Du bist verletzt, und ein Verletzter bedeutet für seine Kameraden mehr Last als Unterstützung. Für dich habe ich eine andere Aufgabe.«
Annius saß auf dem Pferd, das man ihm gebracht hatte. Eine der Ketten, mit denen der Bote des Arminius gefesselt war, hatte er durch seinen Gürtel geführt und am Sattel befestigt, die andere hielt ein einäugiger Praetorianer, der abgesessen war, um sein Reittier zu schonen. Begleitet wurden sie von vier weiteren Praetorianern, denen Annius ohne ein weiteres Wort zugeteilt worden war.
Annius hatte versucht, sich in jene kühle, abgeklärte Ruhe zu versetzen, die ihm stets geholfen hatte, seinen Dienst in der Gewissheit, das Richtige zu tun, gehorsam zu verrichten. Man tötete, weil der Feind einen selbst mit dem Tode bedrohte. Schlachten dienten dazu, den Feind aus dem Feld zu schlagen und die Zahl seiner Kämpfer zu vermindern, bis er den Krieg aufgab, sich unterwarf. Feldzüge hatten ihren Sinn darin, den Frieden zu sichern, räuberische Banden daran zu hindern, mordend und brandschatzend ins Land einzufallen, was jahrzehntelang hingenommen worden war. Man brachte den Barbaren Gesetze, schonte diejenigen, welche sich fügten, während harte Strafen jeden erwarteten, der übermütig
auf Umsturz und Tumult sann. Lautlos wiederholte Annius diese Worte, unentwegt, doch die Argumente, Bestandteile jeder Rede eines jeden Befehlshabers oder Statthalters, hatten ihre Bedeutung verloren. Wie Verbannte waren sie abgeschnitten von jenem Teil der Welt, in dem Frieden herrschte und Gesetze galten, der Willkür und Grausamkeit der Barbaren ausgeliefert. Frühestens in drei Tagen würden sie die Amisia erreichen, von dort aus müssten sie bis Vetera oder Aliso noch mehrere Tage marschieren durch wildes, raues Land, Heimstatt gesetzloser, kriegerischer Barbaren.
Obwohl die Angriffe wieder einmal nachgelassen hatten, war keine Erleichterung aufgekommen, zu sehr hatte sie in den vergangenen Tagen die Ruhe zwischen den Kämpfen getrogen. Nur vor ihnen wurde wieder gekämpft, die Erste und Zweite Cohorte der Achtzehnten waren in Gefechte verwickelt worden, deren Lärm bis zu ihnen dröhnte. Der Praefect der Praetorianer hatte darauf gedrungen, nicht weiter vorzurücken, doch Varus entschied anders. Er setzte sich an die Spitze der nachrückenden Cohorten und ließ einen Teil seiner Praetorianer bei dem Gefangenen zurück.
Argwöhnisch spähte Annius nach Bewegung in den Wäldern, die den Hang säumten. Es hatte sich bereits herumgesprochen, dass sie noch ein weiteres Hindernis erwartete, wenn sie den nächsten auch nur halbwegs notdürftigen Lagerplatz erreichten; ein langer Wall mit Palisade, entlang des Berghangs errichtet, versperrte den Weitermarsch, und es bestand kein Zweifel daran, dass diese Befestigung ein Werk der Aufständischen war.
Annius fühlte sich zerschlagen, der dunkle Fleck an seinem Oberarm pochte, sein Knie war angeschwollen, und allein der Gedanke, irgendwann abspringen zu müssen, war ihm unbehaglich. Dennoch zitterte er vor Anspannung, und
der Drang, sich einzumischen, den Weg freizuhauen, wollte ihn schier zerreißen. Er brannte darauf, Feinde, Aufständische, Meuterer niederzumachen, Rache zu nehmen für die erlittene Schmach, für den Verlust Thiudgifs und Caldus’, für die bange Ungewissheit, wie es Sabinus seit ihrer Trennung ergangen sein mochte. Annius ballte die Hände zu Fäusten, bis die Nägel sich ins Fleisch bohrten, würgte an dem Kloß in seinem Hals, ohne zu wissen, ob es Zorn war, der in ihm wühlte, oder Verzweiflung. Die Götter hatten sich abgewandt, kein Gebet, kein Gelöbnis würde ihre Gunst erkaufen.
Sie erreichten den Ort des Gefechtes am Fuß eines Grashangs, wo der Weg zwischen den ausgedehnten Mooren zu ihrer Rechten und dem nassen, rutschigen Gefälle eng wurde. Die vielen Hundert Soldaten, Pferde, Maultiere und Burschen hatten die morschen Bohlen zertrampelt und mit dem Schlamm des Weges zu einer matschigen Masse geknetet, in der Füße und Hufe immer wieder ausglitten. Der Anblick der zahlreichen Leichen auf dem niedergetretenen Gras verursachte Annius Übelkeit. Die Gefallenen mussten bestattet werden, sonst würden ihre Geister keine Ruhe
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