Varus - Historischer Roman
Kanten an der Felswand. An spitzen Steinen konnte man sich verletzen. Schwer verletzen. Wie von einer Bogensehne geschnellt, rannte er auf die Felswand zu. Hände griffen nach ihm, ein Schatten flog ihm in den Weg, ein Bein fing seinen Fuß ein, er stolperte. Prallte gegen die Felsen, rutschte daran herab, zerschrammte sich Arme und Beine. Hände rissen ihn hoch. Eine Faust traf ihn, schleuderte
ihn gegen die Wand. Hart traf sein Kopf auf und zerbarst in gleißendem Licht.
Vorsichtig folgte Thiudgif dem alten, von Unkraut und Buschwerk überwucherten Pfad zwischen den Hügeln. Solange sie keine frischen Spuren entdeckte, war nicht zu befürchten, dass sie den Dörflern, die sich irgendwo in diesen Wäldern verborgen hielten, begegneten. Die Sonne blinzelte müde durch das Laub, Mittag stand bevor, und sie musste einen Bach finden, damit sie rasten konnten.
Als sie stehen blieb, hörte sie einen Stolperer und drehte sich um. Beinahe wäre Thiaminus, der dicht hinter ihr ging, gegen sie geprallt. Mit seinen verquollenen Augen sah er übermüdet aus, was wenig verwunderlich war, nachdem er die halbe Nacht Wache gehalten hatte. Gemeinsam warteten sie auf Amra, die ihre Tochter vor sich her schob. Weil Thiudgif Thiaminus’ Blick wie eine Berührung empfand, hielt sie krampfhaft Ausschau nach den anderen, selbst als sie schon das Rascheln des Laubes und das Knacken des Reisigs hörte. Bevor sie in die Fänge der Römer geraten war, hatte kein Mann sie ernst genommen, war sie nur Sahsmers magere Tochter gewesen, die mit den roten Haaren. Ihr Vater war einmal ein namhafter Krieger gewesen, aber sein Ruhm war geschwunden, eigentlich war er nur noch ein vorzeitig gealterter Mann mit einem unheilvollen Hang zu Bier und Met.
Und jetzt schielte dieser junge Mann, Freigelassener wie sie, nach ihr und erinnerte sie mit jedem bittersüßen Blick aus seinen braunen Augen an denjenigen, den sie in der Not zurückgelassen hatte. Augenblicklich fühlte sie sich elend, tastete nach den Tafeln unter ihrem Kittel, setzte ihren Weg
ein Stück fort, um allein zu sein. Doch Thiaminus folgte ihr, während sie die Hände vor dem Kinn faltete, die Augen schloss und tonlos Gebete flüsterte, Gebete an die Idisen, die den Kriegern im Kampf beistehen, dass sie ihren Titus beschützen und aus der Schlacht retten mochten.
Als sie unversehens stolperte, fing Thiaminus sie schnell, wenn auch etwas unsanft auf. Brüsk stieß sie ihn von sich.
»Kannst du mich nicht ein einziges Mal allein lassen?«
Er öffnete den Mund, schwieg jedoch und hob nur beschwichtigend die Hände. Thiudgif wirbelte herum und bahnte sich ihren Weg tiefer in den Wald. Sie presste die Fäuste vor den Mund, versuchte vergebens, den Zorn zu dämpfen und die Tränen zurückzuhalten. Dicht vor einem Baumstamm blieb sie stehen, legte die Stirn an die glatte Rinde und schlug mit beiden Fäusten darauf. Annius musste es einfach schaffen, sich durchzuschlagen. Sie wollte ihn wiedersehen. Er hatte sie zwar zu ihrem Vater geschickt, ihr den Freilassungsbrief nur gegeben, damit sie eine Rettung in seiner Heimat fände, falls es kein Vaterhaus mehr gäbe für sie. Aber was sollte sie in ihrem Vaterhaus? Wer wollte denn ein Mädchen, das Römern in die Hände gefallen war, noch heiraten?
Schluchzend barg sie das Gesicht in den Händen, drehte sich um und rutschte am Baumstamm herab, bis sie auf dem Boden saß. Eine Weile ergab sie sich ihrem Kummer, bis sie Schritte hörte, sich jemand neben ihr niederließ und sie fest in die Arme schloss, zärtlich auf sie einredete. Amra war ihr in der Not eine Freundin geworden, Amra zuliebe musste sie das Häuflein Geretteter nach Aliso führen. Alles Weitere ergäbe sich dann.
Thiudgif blinzelte die Tränen von den Wimpern, rieb sich die Augen und stand auf.
»Wir müssen weitergehen«, sagte sie, verbarg dabei ihr
Gesicht vor Thiaminus und Sura, die sie aufmerksam musterten.
Sie kämpfte sich durch das nächste Gestrüpp, dem Pfad folgend, den sie mehr ahnte als erkannte. Alte Bruchstellen im Zweigwerk, ein kaum erkennbarer Saum zwischen Gras und Kräutern führten sie weiter. Sie achtete auf die Schatten, richtete sich nach der Sonne und setzte Fuß vor Fuß. Amra blieb bei ihr, ihre Gegenwart tat Thiudgif wohl. Irgendwann würden sie die Lupia erreichen, in drei oder vier Tagen. Von da an würde es leichter sein, sich durchzuschlagen.
Sie waren ein gutes Stück vorangekommen, sicherlich mehr als zwei römische Meilen, als Thiudgif hinter
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