Varus - Historischer Roman
sich Stimmen hörte, Schreie hallten im Wald wider. Sie hieß Amra und Sura zu bleiben und eilte mit Thiaminus zurück, der einen seiner inzwischen vier Eibenspieße wurfbereit in der Rechten hielt. Die anderen Frauen waren weit zurückgeblieben, und im Näherkommen erkannte Thiudgif, dass kein Streit unter ihnen ausgebrochen war, sondern etwas sie in Angst versetzte. Hastig brach sie durch das Unterholz und sah die kleine Gruppe umzingelt von zehn, zwölf Frauen und Mädchen in derber Kleidung und Jungen, die noch nicht alt genug waren, in den Kampf zu ziehen. Bewaffnet mit Speeren, Pfeil und Bogen und Dolchen belauerten sie Privatus und die Frauen, die ihre Messer gezückt hatten.
Die wütend zeternde Fausta verstummte, und einige der Fremden hatten sich umgedreht. Eine jüngere Frau stemmte die Linke auf die Hüfte und blitzte Thiaminus an. Unter dem hoch gebundenen Gürtel wölbte sich ihr Leib.
»Was wollt ihr hier?«, blaffte sie.
Trotz der Schärfe in dieser Stimme trieb der Klang ihrer Muttersprache Thiudgif beinahe Freudentränen in die Augen.
»Das Gleiche frage ich dich!«, entgegnete sie dennoch ebenso hart. »Ich bin Thiudgif, Tochter des Sahsmers. Ich führe diese Leute zum Ufer der Lupia.«
»Du sprichst wie wir, aber diese Leute nicht. Sag mir also, aus welchem Grund ihr in diesen Wäldern herumschleicht!«
Fieberhaft wog Thiudgif die Gefahren ab. Die Fremden waren in der Überzahl, besser bewaffnet, und die Jungen, die mit finsteren Mienen herumstanden, waren offensichtlich die Söhne einiger dieser Frauen. Privatus und Thiaminus wurden wohl als ernste Bedrohung empfunden. Vielleicht half Wahrhaftigkeit weiter. Immerhin waren sie alle in einer ähnlichen Lage.
»Unser Ziel ist Aliso«, sagte sie, »und dass wir Flüchtlinge aus den Kämpfen sind, hast du sicherlich bereits vermutet. Wir sind keine Gefahr für euch.«
Die Schwangere nickte langsam, dann ging sie auf Thiudgif zu, reichte ihr die Hand und stellte sich als Radewiga vor, nannte die Namen ihres Vaters und ihres Ehemannes und wies auf einen blassen Knaben, ihren Sohn.
»Ich vertraue dir, Thiudgif«, fuhr sie fort, »aber nicht diesen schlechten Weibern. Die haben keine Ehre im Leib und würden dich für einen Krug Wein verkaufen. Warum rettest du sie vor einem Schicksal, das sie verdienen?«
»Es geht nicht um sie, Radewiga. Je größer die Schar ist, desto besser für uns.«
»Da irrst du. Wir haben euch nur gefunden, weil diese Weiber plärren und lärmen. Dich und den jungen Mann hätten wir niemals bemerkt. Ihr hättet euch nur davonmachen müssen.«
Ein schelmisches Grinsen kräuselte ihre Lippen und ließ Thiudgif erkennen, wie hübsch sie als Mädchen gewesen
war, bevor Schwangerschaften und Sorgen sie ausgezehrt hatten.
»Es gibt nicht nur diese. Da ist auch noch eine Mutter mit ihrer Tochter, und denen bin ich verpflichtet.« Thiudgif beugte den Nacken und hob die Hände. »Radewiga, ich bitte nicht um eure Hilfe, sondern nur darum, uns in Frieden gehen zu lassen. Ich war eine Gefangene und möchte zurück in mein Vaterhaus.«
»Wir alle sind Gefangene«, murmelte Radewiga. »Ich wünschte, alles wäre so einfach, wie die Männer sich das ausgedacht haben. Aber ich fürchte, diese hochfliegenden Pläne werden nur dazu führen, dass immer mehr Blut vergossen wird und wir unsere Tage hungernd und frierend in den Wäldern zubringen werden.« Sie richtete den Blick versonnen in die Ferne und schwieg eine Weile, als dächte sie nach; dann sah sie Thiudgif wieder an. »Die schlechten Weiber wären uns nichts nütze, weil sie arbeitsscheu sind und nur Unruhe stiften, und du bist eine von unserem Volk. Aber mehr kann und darf ich dir nicht zugestehen. Die beiden Männer, die bei euch sind, gehören zu den Feinden und sind bewaffnet -«
»Sie sind Freigelassene, Knechte, keine Soldaten«, warf Thiudgif ein. »Wir gehörten alle zum Tross. Wir sind bei einem Angriff geflohen.«
»Hab keine Angst! Ich weiß, dass du ihren Schutz brauchst. Wenn ihr euch nach Aliso durchschlagen könnt, mehr denn je!«
»Was meinst du damit?«
Radewigas helle Augen funkelten. »Aliso steht unter Belagerung.«
Die Nachricht traf Thiudgif wie eine Ohrfeige, fassungslos starrte sie die Frau an. Ihr Vater kam ihr in den Sinn, sie hatte
Angst um den alten Mann, fragte sich, ob er zu den Waffen gegriffen hatte, ob er sich den Aufständischen angeschlossen hatte oder den Verteidigern von Aliso. Es gab ohnehin keine richtige Entscheidung, denn die
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