Varus - Historischer Roman
und etwas Beerenmus auf einem großen Blatt zu Thiaminus, der am Rande der kleinen Wiese Wache hielt.
»Du musst schlafen«, sagte sie, während er bedachtsam kaute. »Radewiga und die andere Frau sagten ja, dass hier jetzt niemand sei, weil alle in die Wälder geflüchtet seien.«
»Dies ist eine Wasserstelle. Denkst du nicht, dass sie ihre Wasserstellen aufsuchen werden, um ihre Kleidung zu waschen oder sich zu baden?«
Obwohl sie im Schatten kaum mehr als ein Aufblitzen erkannte,
fühlte sie sich unbehaglich unter seinem Blick und nestelte an einem Riss in ihrem Rock. Die Tafeln lagen warm auf ihrer Haut. Sie brauchte sie nicht, dessen war sie sich sicher, aber sie würde sie als Andenken bewahren.
»Vor uns liegen noch drei schwere Tage, ehe wir Aliso erreichen. Es nützt nichts, wenn dich unterwegs die Kraft verlässt. Du solltest wirklich schlafen.«
»Glaubst du, dass eine von denen Wache halten kann?« Er wies mit dem Daumen hinter sich, und dass er die Frauen um Fausta meinte, war ihr klar.
»Wir werden sehen. Sie können sich das ja aufteilen.«
Annius beschattete die Augen mit der Hand, während er angestrengt über die Schilfwälder jenseits des Flüsschens spähte. Am zweiten Tag nach der Flucht aus dem letzten Heerlager waren sie auf dieses Gewässer gestoßen und den morschen Bohlenwegen an seinem Ufer gefolgt, bis sie in der Dunkelheit den Pfad nicht mehr erkennen konnten und Rast machen mussten. Erst morgens befreiten sie sich von Dreck und verkrustetem Blut und teilten die spärlichen Reste am Vortag gesammelter Beeren, während Annius im Schutz der Sträucher am Ufer Ausschau hielt.
Flach wie ein gestrafftes Laken breitete sich das Land vor ihm aus, bewachsen mit einem Pelz aus rauschendem Röhricht, das im Sonnenlicht flirrte. Vögel trällerten hoch oben, zwitscherten im Schilf, schwarze Teichhühner stießen schrille Pfiffe aus. Nirgendwo zeichnete sich der Schatten eines Hügels ab. Sie würden dem schlechten Weg folgen müssen, ganz gleich, wohin er sie führte. Dieses Schwemmland würde irgendwo enden. Er kehrte zu den anderen zurück, die auf dem kleinen, mit Sträuchern und verwilderten Korbweiden
bewachsenen Buckel lagerten, und nahm die Leine des Maultieres, das sie mit ihren Kettenhemden, Helmen und Schilden beladen hatten. Wortlos verständigten sie sich auf den Aufbruch, dann marschierten sie jeweils zu zweit weiter. Der Vorsicht halber hatten sie auch die Glocke, die sie auf das Tier aufmerksam gemacht hatte, in der ersten Nacht mit Gras vollgestopft, damit das Gebimmel sie nicht verriete, ehe Blaesus das lästige Ding am anderen Tag mühsam vom Geschirr geschnitten hatte.
Nach Tagen schier ununterbrochenen Lärms genoss Annius die Stille dieser Landschaft, die Wärme auf der Haut. Die Schmerzen im Bein ließen sich aushalten, wenn er es nur wenig belastete. Am Vortag hatte er immer wieder darüber nachgedacht, Sabinus in seine unfreiwillig übernommene Aufgabe einzuweihen, nachdem dieser ihn auf den kostbaren Dolch angesprochen hatte; doch weil Sabinus geargwöhnt hatte, er habe die Waffe einfach an sich genommen, also einen Gefallenen beraubt, behielt Annius das Geheimnis von Ring und Brief für sich.
Das Flüsschen wand sich in mehreren Armen, meist vom Schilf verborgen, träge dahin, begleitet von dem alten Bohlenweg, der nur selten ein wenig die Richtung änderte. Schließlich erkannte Annius in der Ferne den dunklen Schattenriss eines Hügels, bekrönt von einer Siedlung. Der Weg würde sie unweigerlich dorthin führen.
Annius blieb stehen, suchte die Umgebung nach Spuren ab, während das Maultier sich am Gras labte. Zwischen niedrigen Sträuchern entdeckte er einen Saumpfad, der sich im Schilf verlor. Er drückte Sabinus die Leine des Tieres in die Hand und bog in den Pfad ein, vorsichtig darauf bedacht, keinen Zweig zu brechen. Sogar die Schuhe mit den genagelten Sohlen zog er aus, um bei den Einheimischen keinen
Verdacht zu erregen. Sie mussten das Dorf umgehen, ihnen blieb keine andere Wahl, als in die Sümpfe auszuweichen.
Die anderen taten es ihm nach, zuerst Sabinus mit dem Maultier, das schnaubend die Sträucher niedertrampelte und jeden Versuch, ihre Spuren zu verwischen, vereitelte. Nach einer Weile verlor sich der Saumpfad zwischen flachen Tümpeln und Binsen. Immer wieder musste Annius von einem festen Tritt zum nächsten springen. Das Maultier scheute, stemmte die Hufe in den allzu weichen Boden, und seine heiseren Schreie hallten über das Moor, bis es
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