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Varus - Historischer Roman

Titel: Varus - Historischer Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iris Kammerer
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Schleuse in ihr geöffnet, um diese abflie ßen zu lassen. Sie, die diese Gruppe wacker hierhergeführt hatte, war wieder ein Mädchen, das nicht wusste, welcher Weg der richtige war.
    Sie tastete nach den Tafeln auf ihrem Bauch, nestelte hastig den Knoten ihres Gürtels auf, rollte den Kittel hoch, um die Binden, die sie um den Leib geschlungen hatte, zu lockern, und zog die Tafeln hervor. Sie wog das Holz in ihren Händen, und während ihre Finger darüberstrichen, quollen Tränen in ihre Augen. Sie mochte diesen Mann, der sie aus dem dreckigen Verschlag gerettet hatte, obwohl er sie in eine Kammer eingesperrt hatte. Er hatte ihr nie etwas zuleide getan - im Gegenteil, er hatte sie in die Arme genommen, sie mit seinem Schild beschützt, als das Marschlager unter Beschuss genommen worden war. Er hatte ihr die Freiheit geschenkt, ihr ein neues Heim zugesichert für den Fall, dass sie nicht in ihr Vaterhaus zurückkehren könnte. Er war wie Vater und Bruder zugleich gewesen. Und sie hatte ihn geküsst.
    Mit heißen Wangen saß sie unter dem schattigen Baum und konnte sich das Lächeln nicht verbeißen, obwohl sie zugleich weinte. Sie zog die Schultern hoch, schloss die Augen, umarmte sich selbst, die Tafeln auf den Oberschenkeln, und wiegte sich sacht vor und zurück. Er war nicht tot. Er würde nicht sterben. Sie hatte ihm das Geheimnis verraten, nicht den Tod in seine Gedanken zu lassen. Er würde einen Weg finden, wie auch sie einen Weg finden würde. Und eines Tages …
    Sie verbat sich allzu hoffnungsfrohe Gedanken. Es gab einen Ort, wohin sie gehen konnte, wo man sie achten würde, davon war sie überzeugt. Aber zuerst zog es sie an einen Ort, wo die römischen Heere sich wieder sammelten, einen Ort, den er aufsuchen würde, sobald er sich aus den gefährlichen Wäldern gerettet hätte. Dort würde sie warten.
    Sie sprang auf, glättete ihren Rock und stopfte die Tafeln wieder zwischen die Binden um ihren Leib, strich dann noch einmal zärtlich darüber, bevor sie den Kittel wieder gürtete. Alles roch muffig und verschwitzt, und sie war noch knochiger geworden, als sie ohnehin schon war. Aber sie fühlte neue Kraft. Eilig wischte sie das Nass vom Gesicht, kniff in die Wangen, damit sie sich rosig färbten, und rannte zurück zum Pfad, wo sie bereits ungeduldig erwartet wurde.
    »Wir schleichen uns durch die Reihen der Belagerer«, sagte sie entschlossen. »Thiaminus, du kennst den Weg, du führst uns. Und wir werden alle beieinanderbleiben und still sein wie Ameisen, die Getreide stehlen.«

XIV
    Im fahlen Dunkel der beginnenden Nacht schlüpften sie durch das Dickicht, Thiaminus nach, der sie mit stummen Zeichen mahnte, schneller und leiser zu sein. Thiudgif fröstelte unter ihrem Umhang, den sie fest um den Körper geschlungen und über den Kopf gezogen hatte. Das farblose, schmutzige Tuch tarnte sie und die anderen Frauen. Einige hatten untereinander Kleider getauscht und helle Sachen zurückgelassen, damit keine durch auffällig buntes Zeug die anderen gefährde. Wenn sie die festen Mauern von Aliso erst erreicht hätten, würde sich Neues finden. Nur eine helle Tunica hatten sie zurückbehalten; eine junge Hure hatte sie angeboten, als Amra erklärt hatte, dass sie ein weißes Tuch brauchten, um sich den Belagerten als Flüchtlinge zu erkennen zu geben.
    Der Widerschein ferner Lichter spielte auf den Baumstämmen am Rand des Waldes. Thiaminus kauerte zwischen den Büschen und blickte starr hinaus. Thiudgif, Amra und Sura fanden im Schutz des Unterholzes Platz neben ihm, die anderen blieben zurück; nur Privatus wurde nach vorn gewunken. Weit vor ihnen, inmitten von Wiesen und Weiden, erhoben sich schwarz die Mauern des Lagers, bekrönt von Türmen; ihr Ziel, sichtbar nahe, erschien Thiudgif mit einem Mal unwirklich wie ein Trugbild. Lichter funkelten auf den Mauern, blass wie die Sterne am Himmel.

    »Wir sind inmitten des Belagerungsrings«, flüsterte Thiaminus. »Die Barbaren haben hier und da Posten aufgestellt und leider befindet sich eines ihrer Lager in der Nähe. Ich konnte auf die Schnelle keinen anderen Weg finden.« Er deutete auf das finstere Aliso. »Wenn wir schnell hinüberlaufen zu dem Tor, das sich genau vor uns befindet, gelingt es uns vielleicht, unerkannt aus der Schussweite der Barbaren zu kommen. Aber das ist ohnehin der leichtere Teil …«
    Mit gesenktem Kopf nagte er an seiner Oberlippe, als suche er nach Worten, um ihnen die Gefahr zu erklären.
    »Die Posten auf der Mauer werden

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