Varus - Historischer Roman
Weinen der Kinder, die während des Angriffs verschleppt worden waren, hallten in Thiudgifs Ohren wider. Ein Zittern durchlief ihren Körper. Gewaltsam riss sie die Füße vom Boden los, raffte den schmutzstarrenden Rock zusammen und hastete zwischen den Lastkarren hindurch zum Weg, wo die Frauen versammelt waren. Bis eine jähe Lähmung sie überfiel, als griffe eine kalte Hand in ihren Leib und ballte sich um ihre Eingeweide. Sie blieb stehen und hielt den Atem an, um auf die Stimmen zu lauschen, das Tosen, das der Wind vom Wald herbeitrug, doch ihr Herzschlag übertönte jeden Laut.
Drei Schatten bewegten sich auf dem Weg herunter in die Wagenburg. Die Kapuzen ihrer Umhänge hatten sie zurückgeworfen, sie trugen Helme und waren mit Lanzen bewaffnet. Thiudgif stockte der Atem, als sie Annius erkannte, neben ihm den jungen Offizier, der sie befragt hatte. Er hielt auf sie zu, hatte sie wohl erspäht, wurde von zusammenlaufenden Frauen umringt, aufgehalten. Thiudgif patschte durch knöcheltiefe Pfützen und Schlamm, bis sie die rangelnden, jammernden Frauen erreichte, schrie seinen Namen, schlug nach denen, die sie festhalten wollten.
Eine helle Stimme beendete den Lärm, ein Weg öffnete sich, Thiudgif drängelte sich an Leibern vorbei, bis sie vor den Männern stand.
»Rufilla?«, fragte der Offizier.
Sie nickte heftig, deutete mit der Hand auf Annius, der neben ihm stand. »Titus Annius ist mein Herr.«
Thiudgif rieb ihre Oberarme, während sie Annius unverwandt anstarrte. Obwohl der Wunsch, ihn zu berühren, sich zu vergewissern, dass er wirklich und wahrhaftig lebte, dass er vor ihr stand, übermächtig zu werden drohte, verharrte sie auf der Stelle.
»Lasst es gut sein«, sagte der Offizier zu den Frauen. »Wir sind nur aus einem einzigen Grund hier, und wir werden niemanden mit uns dort hineinnehmen, wenn wir zurückgehen. Das wisst ihr!«
Flink schob Thiudgif sich näher, streckte die Hand aus, strich über Annius’ Arm, fing seinen Blick ein. Da war kein Lächeln auf seinen Zügen. Wieder glaubte sie die schrillen Schreie der Kinder zu hören, das erstickte Kreischen der Frauen, die die Angreifer davongeschleift hatten, die hohen, dünnen Stimmen, die über der Senke, über dem dumpfen Raunen und Lachen der Feinde geschwebt hatten.
»Wo steht der Wagen?«, fragte er.
Langsam drehte Thiudgif sich um, stolperte zum Karren zurück, in dem sich ihre und Annius’ Habe befand. Noch immer flickten Amra und ihre Tochter die Plane. Mit zitternden Händen hielt Sura das Leder fest, mühte sich, mit den langen Dornen, die sie von Schlehengestrüpp gebrochen hatte, eine feste Naht zu bewerkstelligen. Thiudgif blieb stehen; ringsum leuchteten die Augen der Frauen und Kinder, die ihnen gefolgt waren, im Dunkel.
Annius’ ohnehin schmale Lippen bildeten nur noch eine scharfe waagerechte Linie. Hinter ihm standen die beiden anderen Männer. Er wirkte blass und erschöpft, und erst jetzt bemerkte sie den Verband, der aus seinem Waffenrock lugte.
»Nur eine Fleischwunde«, murmelte er, als sie darauf deutete. »Nichts weiter.« Er fasste sie bei der Schulter und schob
sie mit einem gemurmelten Befehl an dem Maultier vorbei, ehe er stehen blieb und sie anblickte, dann die Augen niederschlug. Seine beiden Begleiter traten von einem Fuß auf den anderen und hielten nach allen Seiten Ausschau, als rechneten sie mit neuen Angriffen.
»Rufilla …«, begann Annius zögerlich, »ich werde wieder kämpfen müssen.«
Sie würgte an dem Kloß in ihrem Hals, und auch er schluckte schwer. »Ich wurde nicht einberufen, weil ich so tüchtig bin, sondern …« Anstatt weiterzusprechen, kramte er umständlich in den Falten seines Umhangs, zog einen ledernen Beutel hervor, dem er ein schmales Bündel hölzerner Tafeln entnahm. Tafeln wie die, auf denen die Schreiber ihre endlosen Reihen von Zeichen hinterließen, um damit Wörter, ja ganze Sätze aufzubewahren. Tafeln, die nur halb so groß waren wie seine Hände. Neugierig sah sie zu, wie er die Schnüre löste, die Tafeln aufklappte, dann nacheinander seinen beiden Begleitern zunickte.
»Rufilla, das sind Gaius Caelius Caldus, senatorischer Tribun der Achtzehnten Legion, und Aulus Caecilius Sabinus, Schreiber wie ich, ein Freund. Ich …«
Es schien, als versage ihm die Stimme, als müsste er sich zusammenreißen, um nicht … Um was nicht? Sie setzte ein vorsichtiges Lächeln auf und strich ihm über den Arm. Noch immer kam ihr seine Anwesenheit wie ein Traum
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