Varus - Historischer Roman
Maro presste die Hände auf den Schal und murmelte gemeinsam mit den beiden anderen unhörbar vor sich hin. Annius spähte über den Rand der Schildmauer zum Waldrand, wo alles schwarz und dunkel blieb, während Venicius sich um Maro kümmerte, der hustete und keuchte wie ein Pferd nach langem Galopp. Blaesus gesellte sich zu Annius, und sie tauschten ein falsches Zwinkern. Nur dumpf und wie aus weiter Ferne drangen Angstschreie und Hilferufe an Annius’ Ohren.
Als jemand ihn an der Schulter berührte, fuhr er herum und starrte in Venicius’ helle Augen. Der vierschrötige Mann
vom Oberlauf der Atesia deutete ins Lager hinunter, wo sich am Fuße des Walls zu beiden Seiten des Haupttores immer mehr Soldaten sammelten. Sie krochen aus den verbliebenen Zelten und unter ihrem notdürftigen Wetterschutz hervor, kamen über die Hauptstraße näher und blickten zum Kamm des Walls herauf. Annius lockerte den Schal, schob ihn herunter, hörte das Murren unter sich, wütende Zurufe, die er nicht verstand, als ein gellendes, langgezogenes Kreischen aus dem Wald ihn schier durchbohrte und die Menge zum Schweigen brachte. Einen Augenblick lang.
Maro hatte sich beruhigt, der Erstickungsanfall war vorüber. Er rappelte sich trotzig auf, seine Fäuste umklammerten den Rand des Schildes.
»Die Furien mögen diese Bestien in Menschengestalt zerreißen!«, brüllte er in die Nacht, ein Fluch, in den die Menge am Fuß des Walls tausendfach einstimmte.
In diesem Augenblick bemerkte Annius die funkelnden Lichter am Waldrand, Fackeln, aber nur wenige. Fernes Gelächter hallte von den Bäumen wider, Beschimpfungen, jemand spuckte laut aus. Annius verstand die Worte nicht, aber der Sinn war leicht zu erraten. Neben ihm drängten sich seine Kameraden, als plötzlich eine Frau im Fackelschein stand, nackt, die Haare gelöst. Annius stieß seine Kameraden in die Rippen.
»Umdrehen!«, blaffte er. »Ihr schaut euch das nicht an!«
Maro erwiderte den Stoß. »Du befiehlst uns nichts! Wir sind genauso lange im Dienst wie du!«
Dennoch duckten sie sich hinter die Schilde. Annius kniff die Augen zu und richtete alle Aufmerksamkeit auf seinen Atem, Blaesus machte seinem Zorn in einem Aufschrei Luft. Als Annius die Augen aufschlug, rannten die Bogenschützen der syrischen Cohorte herauf, nahmen Aufstellung auf dem
Wall und schickten binnen weniger Atemzüge nach einem scharfen Hornsignal eine pfeifende Pfeilsalve gen Himmel. In einer einzigen fließenden Bewegung zogen die Männer mit den spitzen Helmen neue Geschosse aus dem Köcher, legten sie auf die Sehnen, spannten die doppelt geschwungenen Bogen, bis sie sich in einen Halbkreis verwandelten, und entließen die Pfeile. Aus dem Lager dröhnte Beifall herauf, doch nach einer dritten Salve senkten die Syrer ihre Waffen und traten vom Kamm des Walles zurück.
Durch einen Spalt zwischen zwei Schilden sah Annius, dass die Fackeln im nassen Gras erloschen. Die Barbaren zogen sich zurück. Vielleicht hatten sie sich zu früh gefreut.
In einer langen Reihe kauerten die Bogenschützen auf dem Hang des Walls, dösten oder verständigten sich mit Handzeichen. Zweimal hatten sie sich in Windeseile aufgestellt, weil grölende und Fackeln schwingende Barbaren mit menschlicher Beute am Waldrand aufgetaucht waren. Ihre Salven waren gezielter gewesen als beim ersten Mal, und Schmerzgeheul hatte die Menschen im Marschlager jubeln lassen.
Es hatte wieder zu regnen begonnen. Annius zog die Kapuze seines Umhangs tief in die Stirn, als er Stimmen hörte und aufsah. Er bemerkte einen Schatten am Hang des Walls, eine Frau, die näher eilte und unter der Kapuze ihres triefenden Umhangs hinweg einem nach dem anderen ins Gesicht schaute.
Ehe Annius begriffen hatte, dass er sein Mädchen vor sich hatte, hatte er schon ihre Arme gepackt, sie zu sich gezogen, dass sie mit einem leisen Aufschrei auf die Knie fiel.
»Du lebst?«
»Ich habe dich gefunden!«, jubelte sie. »Ich habe dich überall gesucht und endlich gefunden.«
Er zog sie an sich, ohne dass sie sich wehrte, umschlang sie, drückte ihren Kopf in seine Halsbeuge und hielt sie fest. Atemlos. Ungläubig. Sie lebte. Sie war zumindest für jetzt in Sicherheit. Er nahm eine Spur ihres warmen Atems wahr, eine süße, köstliche Spur. Ihre Kapuze war verrutscht, sodass ihr klebrig feuchtes Haar sein Kinn streifte. Sie schmiegte sich an ihn wie ein Lamm ans Mutterschaf - Annius lächelte bei diesem Gedanken. Als ihm der Helm hinderlich wurde, nestelte
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