Varus - Historischer Roman
wenigstens einen Tag zu gewinnen. Die Männer brauchen Ruhe, sie müssen sich erholen.«
Varus strich langsam mit den Fingern über sein glatt rasiertes Kinn und musterte ihn nachdenklich. Die Stille in diesem Zelt schien sich gegen den Lärm und die Unrast unter den Soldaten zu stemmen.
»Ich gebe dir recht, Sextus Ceionius. Die Männer brauchen Ruhe. Und ich bin sicher, dass viele in dieser Runde dir zustimmen.«
Beifälliges Gemurmel erhob sich, Caelius, Sertorius und Nervius nickten ebenso wie Eggius, der Ceionius einen seiner seltenen anerkennenden Blicke schenkte. Varus hob den Kopf.
»Aber glaubt ihr, dass die Männer nach dem letzten Angriff noch die nötige Ruhe finden werden?«
Er hatte die Stimme gesenkt, sodass der Lärm von draußen sie beinahe übertönte; eindringlicher hätte niemand die bedrückende Lage in Worten schildern können.
»Warten wir den Rest der Nacht ab«, sagte der Statthalter und löste die Versammlung auf, indem er seinen über die Schultern zurückgeworfenen Umhang schloss und sich zum Zelteingang begab, ohne eine Verabschiedung abzuwarten. Der Bericht der Auguren blieb unbeachtet auf dem Tisch zurück.
In voller Rüstung, mit Schwert, Schild und Speer erreichte Annius wie befohlen die Erste Centuria und reihte sich auf Befehl des Optio in den Zweiten Zug ein. Als er nach der Beratung das Stabszelt verlassen hatte, hatte ihn drau ßen bereits der Primipilus der Achtzehnten, Marcus Caelius, erwartet, um ihm mitzuteilen, dass er der zweiten Nachtwache zugeteilt sei und sich sofort, gerüstet und bewaffnet, melden solle.
Da auch Sabinus ebenso wie alle anderen Stabsgefreiten wieder in die kämpfende Truppe eingegliedert worden war, um zumindest einen Teil der Verluste aufzuwiegen, gab es niemanden, den Annius auf die Suche nach seinem Mädchen schicken konnte. Er bemühte sich, jeden Gedanken an sie zu verdrängen, aber die Sorge zerfraß ihn inwendig. Er kannte nicht einmal ihren richtigen Namen, erinnerte sich nur, dass dieser ihm unaussprechlich erschienen war, weil er mit einem Lispeln begann - und jetzt war sie vielleicht in der Hand der Barbaren.
Die Bläser verkündeten die Wachablösung. Annius weigerte sich, den Gedanken weiterzuverfolgen, überließ sich stattdessen dem gleichförmigen Marschschritt, in den er zwischen den anderen Soldaten verfiel. Sie erreichten den Wall am Haupttor und arbeiteten sich zum Kamm hinauf. Die Wachablösung übernahmen die Zugführer, die Soldaten wurden jeweils zu viert auf ein Stück Palisade oder eine Schildwand verteilt. Jeweils zwei Männer beobachteten den Saum des Waldes, während die beiden anderen warteten, um sie nach einer Weile abzulösen.
Der Wald schwieg; nur gelegentlich rauschten Böen durch das Laub, auch im Lager kehrte Stille ein. Annius kauerte im Schutz der Schilde und spürte seine Beine deutlicher, als ihm lieb war. Er massierte die Narbe am Knie, die sich wieder einmal schmerzhaft bemerkbar machte. Einer seiner Kameraden, Maro, nur wenig jünger als Annius, kramte aus einem Beutel ein paar geschälte Haselnüsse und beschäftigte sich mit Murmelspielen, während die beiden anderen, Venicius und Blaesus, flüsternd Ausschau hielten. Kalt fuhr der Wind unter Annius’ Umhang und den Nackenschutz des Helms, verbiss sich in den Wangenklappen wie das Heulen des Sturms in einem baufälligen Haus, ein schrilles Surren, das ihm durch
und durch ging. Er hob den Kopf. Das leise Geplauder der Kameraden war verstummt. Alle lauschten in die Nacht.
Als Annius eine Wangenklappe anhob, knirschte das Scharnier, und dennoch erkannte er das dünne Wimmern eines Kindes, unterbrochen von Schluchzern. Maro nahm hastig den Helm ab. Legte den Kopf schräg. Er starrte in Annius’ Augen, durch sie hindurch.
Ein spitzer Schrei ließ sie zusammenschrecken.
»Was ist das?«, presste Blaesus hervor, und seine Stimme kiekste, als wäre er noch ein unreifer Junge. »Was geschieht da?«
Plötzlich schlug Maro die Hände vors Gesicht, sein Atem ging in kurzen unterbrochenen Stößen, und er blickte über die schmutzigen Fingerspitzen hinweg ins Leere. »Sie haben meine Blandula …«
»Hört nicht hin!«, befahl Annius. »Das kann ebenso gut eine Finte sein. Macht die Wangenklappen dicht, stopft euch irgendetwas in die Ohren und hört nicht hin!«
Hastig verknoteten sie die Helmbänder unterm Kinn, bevor sie ihre dicken Schals darumwickelten. Doch schon das nächste Kreischen drang durch die Wolle wie ein Messer durch rohes Fleisch.
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