Vater. Mörder. Kind: Roman (German Edition)
daran gearbeitet, erläutert sie, Tag für Tag. Ohne die Hände von ihren Schultern zu nehmen, bittet sie sie erneut, etwas zu ihrem Werk zu sagen.
Meine Tochter macht sich in die Hose. Zu Hause eine Löwin, draußen in der Welt ein verängstigtes Vögelchen. Genau wie früher. Aber dann nimmt sie all ihren Mut zusammen, hört auf, sich auf den Lippen herumzukauen, kreuzt die Beine, als wollte sie sich selbst auf die Füße treten.
»Mischtechnik«, flüstert sie mit trockener Kehle. »Zwei mal zwei Meter. Die Idee hatte ich aus einem Buch und aus japanischen Horrorfilmen.«
Die Jungs mit den fiesesten Metal-Shirts johlen, pfeifen und applaudieren mit erhobenen Händen. Die Lehrer versuchen die Ruhe wieder herzustellen, und Laura erkundigt sich, ob das Kunstwerk auch einen Titel habe. So, wie sie fragt, ist klar, dass es einen hat. Caterina stottert herum, dann wiederholt sie ihn noch einmal, sichtlich genervt.
»Der Name ist: Ich bin der Wind. «
»Der Titel«, präzisiert der Rektor. » Ich bin der Wind . Ein sehr romantischer Titel.«
Hier und da nickt eine Lehrerin. Mein Schwager setzt eine selbstgerechte Miene auf, die signalisiert, dass er ja immer schon gewusst habe, wie talentiert Caterina sei.
»Wir sind sehr gespannt«, sagt der Rektor.
Meine Tochter wechselt einen Blick mit Laura, dann zieht sie an der Schnur. Auch das muss sie zweimal tun, bevor die Mülltüten endlich nachgeben.
Von dem Bild hängen vier lange schwarze Büschel aus glatten glänzenden Fäden bis zum Boden herunter. Ich kann nicht erkennen, woraus sie gemacht sind. Plastikbänder, glaube ich, dünner als Elektrokabel.
Vier Kaskaden schwarzer Schnüre und im Hintergrund eine Villa. Oben sind finstere Wolken und Amseln zu sehen. Grundlage ist ein Fotoabzug, den Caterina lila und rot koloriert hat, vielleicht mit Tempera. Ein stark vergrößertes Foto. Zu stark. So grobkörnig, dass die einzelnen Punkte so groß sind wie Tischtennisbälle. Der Moiré-Effekt ist so übertrieben, dass mir fast ekelt.
Diesen Ort habe ich schon einmal gesehen. Ganz bestimmt in einem Albtraum, denn die Dimensionen in dem Bild sind völlig verzerrt und strahlen etwas Bedrohliches aus.
Laura fordert meine Tochter auf, etwas zu tun. Was genau, verstehe ich erst, als ich mich auf die Zehenspitzen stelle. Auf einer Bank neben dem Gemälde steht ein großer Ventilator.
»Das erklärt dann auch den Titel«, sagt Laura. Caterina drückt auf den Schalter.
Dreifaches Klicken, höchste Stufe.
Der Ventilator pustet das natürliche Hintergrundrauschen der Turnhalle fort.
Die langen schwarzen Bänder werden angehoben und schwingen zur Seite wie Algen in der Strömung. Dahinter werden vier Gesichter erkennbar, bleiche, bis auf den Schädel ausgehöhlte Gesichter mit großen fröhlichen Clownmündern, die Augen grotesk schwarz umrandet wie die von Vorstadtnutten. Die vier Oberkörper schweben in einem Nebel aus Spraylack.
Yurei . Japanische Geister.
Mein Schwager erkennt sich schneller als ich. Seine Frau schlägt die Hände vors Gesicht, um sich nicht sehen zu müssen.
Dieses Foto stammt aus meinem Hochzeitsalbum. Gelähmt wie ein hypnotisiertes Beutetier stehe ich da.
Ich sehe mich, und ich sehe die tote Frau, meine Auserwählte, der ich den Himmel auf Erden versprach und die nie einem anderen gehörte. Der Mensch, den ich nachts beobachtet habe, wenn er, zusammengerollt in die einsamen Mysterien des Schlafes, neben mir lag. Das einzige Wesen auf der Welt, das ein Räuspern von mir wiederkannte wie andere das Klimpern ihres Haustürschlüssels.
Elisa und ich sind das eng umschlungene Paar in der Mitte, zwei Geister, die einer Zukunft zulächeln, die sie nie erleben würden, junge Skelette im Brautgewand, die noch nicht wissen, von welch kurzer Dauer das Glück sein wird, das sie sich hart erkämpft haben, von Aggradi Grafik & Druck, von der Familie Domini, vom Bauunternehmer und von der Bank. Völlig ahnungslos auch dann noch, als wir uns abends in Torre del Poggio auf dem neuen Sofa anschwiegen, während draußen unerbittlich das nächtliche Geschrei der Raubvögel erklang.
Von mir in der hermetischen Finsternis zu ewiger Verwesung verdammt, scheint unser Hochzeitsfoto der Zersetzung preisgegeben wie Elisas Körper. Caterina hat ein Mikroskop zwischen die Knochen und das mumifizierte Fleisch hinuntergelassen. Und sie musste nicht einmal graben, sie musste nicht den Sarg ihrer Mutter öffnen, wie Heathcliff es bei seiner geliebten Catherine vorhatte.
Sie
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