Vater, Mutter, Tod (German Edition)
dem Schreibtisch an. Notizzettel, Kugelschreiber und einen Radiergummi schob er rigoros zur Seite.
Schließlich lagen die Fotos so vor Rakowski, dass er dem Anblick nicht entgehen konnte.
Ein zusammengerollter Teppich.
Die Tatwaffe, ein Brotmesser, voller Blut.
Das Brotmesser, gereinigt, in einer Kunststoffhülle, mit einer Nummer versehen.
Der tote Körper des Jungen in der Totalen, auf dem Teppich liegend.
Die Wunde in Nahaufnahme, gereinigt.
Porträtfotos des Jungen, aus verschiedenen Perspektiven.
Der Junge, nackt, auf einem blanken, grauen Untersuchungstisch aus Edelstahl.
Fragende, tote Augen, immer wieder fragende, tote Augen.
Manthey las das Entsetzen im Gesicht Rakowskis.
Obwohl er erreicht hatte, was er wollte, spürte er keine Befriedigung.
Er setzte sich auf Rakowskis Besucherstuhl.
Rakowski griff zu einem auf dem Schreibtisch stehenden Wasserglas und trank es leer.
»Sie, Herr Dr. Rakowski«, den Titel betonte Manthey, »sind dafür verantwortlich.«
Rakowski erschrak sichtlich.
»Was meinen Sie?«, fragte er.
»Es macht einen Unterschied, ob man hört oder liest, dass ein Kind gestorben ist, oder ob es leibhaftig vor einem liegt. Selbst ein Foto vermittelt den Schrecken nur ungenügend.«
»Ich verstehe immer noch nicht.«
Manthey beugte sich nach vorn.
Am liebsten hätte er den Psychologen an seinem weißen Kittelkragen gepackt. Er verkniff es sich.
»Sie hatten Zeit genug. Ich will Ergebnisse sehen. Wenn Sie keine bringen können, werde ich dafür sorgen, dass Ihnen der Fall entzogen wird.«
»Aber …«
»Ein Kind ist bereits gestorben, Rakowski, und Sie machen hier Ihre Psycho-Spielchen!«
»Aber die Patientin hat auch Rechte«, verteidigte sich Rakowski.
»Die Patientin?«, Manthey erhob seine Stimme.
Gleichzeitig stützte er sich auf Rakowskis Schreibtisch und stemmte sich hoch.
Bereits vor vielen Jahren hatte er gelernt, seine zwei Meter Körpergröße einschüchternd einzusetzen. Selbst wenn Rakowski aufgestanden wäre, hätte er zu ihm aufsehen müssen. Sitzend musste er sich wie eine Maus fühlen, die einem Bussard ins Antlitz blickte, während dieser sie in seinen Krallen hielt.
»Sehen Sie sich den Jungen an, Rakowski.«
Der Bussard beugte sich nach unten, tippte mit einer seiner Krallen auf eines der entsetzlichen Fotos.
Wie unter Hypnose folgte Rakowskis Blick dem lockenden Pochen.
Der Junge mochte sieben Jahre alt sein, eventuell acht.
Durch einen brutalen Messerstich war er in solch jungen Jahren aus dem Leben gerissen worden.
»Muss ich Ihnen den Unterschied zwischen Opfer und Täter erklären?«
»Nein«, sagte Rakowski leise, ohne den Blick von dem anklagenden Blick des Kindes abzuwenden.
»In erster Linie tragen Sie hierfür die Verantwortung, nicht für Ihre Patientin .«
Rakowski schwieg.
»Machen Sie Ihren Job und finden Sie endlich heraus, was wir wissen müssen«, sagte Manthey. Dann verließ er das Büro.
Die Fotos auf Rakowskis Schreibtisch ließ er zurück.
11. Kapitel
Ein Tag vor der Katharsis
I ch sehe überhaupt keine Verletzungen an Ihren Armen. Sind Sie sicher, dass Sie durch die Terrassentür gesprungen sind?«
Jacqueline hatte die Ärmel ihres Pyjamas nach oben gekrempelt. Sie musterte ihre Ober- und Unterarme.
»Ich wollte durch die Tür springen.«
»Ah, Sie wollten durch die Tür springen. Vorhin erzählten Sie mir, Sie hätten sich den Ellbogen vors Gesicht gehalten und wären hindurchgesprungen.«
Dies war wieder einer der Momente, in denen Jacqueline lieber schwieg.
»Interessant«, sagte Rakowski.
Ständig notierte er etwas.
Jacqueline hätte zu gerne Einsicht genommen in seine Unterlagen.
Dann lächelte er sie wieder an, gütig und friedfertig, wie ein Engel.
Er verlor sein Strahlen auch nicht, als er seine Hand in die Seitentasche seines Arztkittels steckte und eine Broschüre daraus hervorholte.
»Und wie erklären Sie sich das?«, fragte er, während er ihr das abgegriffene Heftchen entgegenstreckte.
Jacqueline griff danach und klappte es auseinander.
»Lesen Sie es mir vor«, bat Rakowski.
»›Die Architektenkammer Berlin lädt ein: XII . Symposium Stadtentwicklung. Grand Hotel Großer Wannsee‹«, zitierte Jacqueline. »Das ist die Veranstaltung, von der ich Ihnen erzählt habe.«
»Wissen Sie, welches Datum wir heute haben?«
Jacqueline überlegte.
»In einem Krankenhaus ist ein Tag wie der andere.«
»Sehen Sie nach, für welches Wochenende das Symposium geplant ist.«
Auch dies las
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