Vater, Mutter, Tod (German Edition)
Refugium.
Kommt man aus der nassen, klammen Kälte des Winters zurück zu seiner Haustür, atmet man erleichtert auf. Bereits das Klacken des Türschlüssels verspricht, dass das ersehnte, wohlig warme Ziel erreicht ist. Nur noch wenige Momente trennen einen von Zentralheizung, Wolldecke und heißem Tee.
Oder des Nachts. Wenn die Lampen im Treppenhaus flackern, die eine oder andere ihren Geist bereits völlig aufgegeben hat. Wenn die Sinne schärfer werden und jedes Klacken und Klopfen Angstimpulse und Gänsehaut auslöst.
Wie froh fühlt man sich, hat man das heimatliche Refugium endlich erreicht.
Im Allgemeinen.
Im besonderen Fall von Jacqueline Hinz kam ein zweiter, wesentlicher Faktor hinzu.
Den Hafen empfand sie nur dann als sicher, wenn er nicht zu Hause weilte. Er, ihr Ehemann.
Im Augenblick fühlte sie sich wohl. Sie war mit ihrem Sohn allein in der Wohnung.
Während sie am Waschbecken das gespülte Geschirr vom Mittagessen abtrocknete, saß er hinter ihr am Küchentisch. Sie drehte sich um und betrachtete, wie er konzentriert mit einem seiner Buntstifte hantierte.
Sie hatte sich damals kein Kind von Thorsten gewünscht. Es war einfach passiert. Sie konnte sich nicht mehr entsinnen, ob sie einmal die Pille vergessen hatte, oder ob es trotz Verhütung passiert war.
In den ersten Wochen der Schwangerschaft war sie sich sicher gewesen, das Baby abtreiben zu wollen. Sie hatte die Beratungsgespräche besucht und alle notwendigen Papiere besorgt. Thorsten schien es egal zu sein, ob das Kind lebte oder nicht.
Doch je mehr das Baby in ihrem Bauch anwuchs, desto inniger wurde ihr Verhältnis zu dem ungewollten Fremdkörper.
Irgendwann glaubte sie zu spüren, dass sie einen Sohn in sich trug. Ab diesem Zeitpunkt ging die Phantasie mit ihr durch. Sie stellte sich das Gesicht des Jungen vor, wenn er seine Mutter anlächelte. Wenn sie zum Fenster hinausblickte, sah sie den Kleinen auf der Wippe im Innenhof der Wohnblöcke. In Gedanken stand sie daneben und schubste die Wippe sanft an. Ihr ungeborener Sohn jauchzte vor Vergnügen.
Fortan gab es für sie keinen Zweifel mehr: Sie wollte ihn austragen.
Sie erzählte Thorsten von ihrer Entscheidung, und der nahm sie ungerührt zur Kenntnis.
Er verabschiedete sich von ihr, um mit seinen Kumpels darauf anzustoßen. Als er zurückkehrte, natürlich betrunken, meinte er, dass sie dann auch heiraten sollten. Seine Freunde seien auch alle verheiratet und er sei nun der Letzte in der Reihe.
Jacqueline stimmte ihm zu. Er war eben kein Romantiker, ihr Thorsten. Und seit sie schwanger war, hatte er sie kein einziges Mal mehr geschlagen. Arbeit hatte er auch. Vielleicht würde ihr Leben doch noch gut werden.
Zur Hochzeit trug sie das weiße Kleid, das sie sich schon immer gewünscht hatte. Bereits als kleines Mädchen hatte sie davon geträumt. Ihren Bauch durften die Hochzeitsgäste ruhig sehen. Es wusste sowieso jeder.
Und Thorsten wirkte stattlich und äußerst attraktiv in seinem anthrazitfarbenen Anzug.
Ein herrlicher Tag.
Genauso wunderschön, aber auch verbunden mit unsäglicher körperlicher Qual, entwickelte sich der Tag der Geburt. Ihr Gefühl hatte sie nicht getrogen: Ein Junge! Jacqueline einigte sich mit Thorsten auf den Namen Robin.
Zu Jacquelines Glück entwickelte sich Thorsten zu einem fürsorglichen Vater und einem zufriedenstellenden Ehemann. Zwar trank er weiter wie eh und je, schimpfte und brüllte zuweilen, doch für Jacqueline überwogen die guten Tage.
Man konnte eben nicht alles im Leben haben.
In Robins zweitem Lebensjahr kam die Zäsur.
Früher als üblich kehrte Thorsten von der Arbeit nach Hause zurück.
Die ganze Baustelle voller Polacken, so seine Wortwahl. Jacqueline musste sich konzentrieren, um ihn richtig zu verstehen. Thorsten lallte. Auf dem Heimweg schien er mehrere Eckkneipen, Imbissbuden und Getränkemärkte aufgesucht zu haben.
Jacqueline ging ihm aus dem Weg, nahm den kleinen Robin und zog sich mit ihm ins Kinderzimmer zurück. Sie hatte gelernt, es auszusitzen, bis er wieder nüchtern wurde.
Doch ab diesem Tag, an dem Thorstens Arbeitslosigkeit begann, verschoben sich die Phasen. Sie konnte schließlich nicht die halbe Woche im Kinderzimmer verbringen. Die Konfrontationen häuften sich.
Als Robin größer wurde, schlug Thorsten manchmal auch ihn. Selten zwar, aber Jacqueline gelang es nicht immer, rechtzeitig dazwischenzugehen. Schwierig, wenn man selbst mit blutender Nase in der Zimmerecke lag.
Jacqueline und
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