Vater Unser in der Hölle: Durch Missbrauch in einer satanistischen Sekte zerbrach Angelas Seele (German Edition)
Abends ließ Hans Essen aus einem Restaurant kommen, öffnete eine Flasche Champagner und führte seine aufwendige Fernseh- und Videoausrüstung vor.
»Ein Beomaster«, dachte Rolf entzückt, sagte aber nichts. B&O und Panasonic-Geräte. Ein Sony-Trinitron. Reichlich Spielfilme. Auch Pornos. Rolf wurde sehr verlegen. Hans tat, als wäre so eine Auswahl ganz normal. Für jeden Geschmack etwas. Ein weltgewandter Junggeselle eben. Rolf kam sich plötzlich spießig vor.
Am nächsten Morgen verließen sie das Haus gleichzeitig. Etwas verkatert. Hans zum Flughafen, Rolf zu seiner Fortbildung. Der Tag verging schnell. Abends vertiefte er seine Kenntnisse von Hansʼ Videosammlung.
Dass die Filmauswahl ohne größere technische Probleme von einer Nachbarwohnung aus mitverfolgt werden konnte, war Rolf Albrecht wie den meisten seiner Zeitgenossen damals, 1983, noch nicht bekannt. So war Rolf an diesem Abend zwar ein bisschen mulmig zumute, aber er fühlte sich durchaus allein.
Trotzdem war er erleichtert, als er den Zweitschlüssel am nächsten Morgen in den Briefkastenschlitz werfen konnte, sich auf den Weg zum Seminar und am Nachmittag dann auf die Heimreise machte.
»Beeil dich«, rief Irmela, als er die Wohnungstür aufschloss, »›Der Alte‹ hat schon angefangen.« Und weihte ihn ein in die ersten zehn Minuten der Folge von »Liebe hat ihren Preis«. Mit Bier und Mettbrötchen wurde es ein gemütlicher Abend vor dem Fernseher.
12. September
3. Telefonat
»Warum höre ich nichts von Ihnen?«
»Wir wissen jetzt genau, worauf er reagiert. Wir sammeln noch.«
»Schluss damit. Zeit drängt. Die Frau macht Ärger. Werden Sie tätig.«
»Wir dachten uns, dass wir jetzt …«
»… Sie wissen, ich will keine Details.«
»Okay.«
Als Rolf Albrecht am Dienstagmorgen aus dem Fahrstuhl kam, sah er am Ende des Ganges, vor der Tür seines Büros, eine Frau auf und ab gehen. Frau Bergdorff, dachte er, schon bevor er sie genau erkannte, die Mutter von Tobias. Etwas war passiert. Sie wartete seit einer Weile – im Aschenbecher lagen mehrere Kippen –, war sehr aufgeregt und roch – es war neun Uhr – stark nach Alkohol. Rolf versuchte, sie zu beruhigen, aber auch in seinem Zimmer war sie nicht in der Lage, auf dem Stuhl sitzen zu bleiben, sondern stand immer wieder auf und ging umher.
Sie berichtete, dass Tobias in der letzten Zeit heftige Albträume hätte und nachts oft in großer Panik zu ihr ins Bett krieche. Er redete von Affen, dann wieder von Männern mit Masken, die ihm weh täten. Nachts würden schwarze Gestalten vor seinem Fenster stehen. Am Sonnabend war er wieder bei seinem Vater gewesen, und seither sei es ganz schlimm. In der Nacht habe er bei ihr geschlafen und dabei, wie seit Jahren nicht mehr, ins Bett gemacht. Außerdem habe er merkwürdige Stellen am Po. Sie erläuterte diese Beobachtung nicht, und Rolf Albrecht fragte nicht nach.
Aber er hörte teilnahmsvoll zu und schrieb mit. Er begann, ihre Sorge zu verstehen und auch Verständnis für ihren Alkoholkonsum zu entwickeln. Dann machte er für sie und ihren Sohn einen Termin am nächsten Freitag frei.
»Vielleicht«, sagte er noch, »sollten Sie zu einer Erziehungsberatungsstelle gehen?« Und dann suchte er ihr die Adresse einer Ärztin für Tobias raus.
Aber Tobias will sich nicht untersuchen lassen.
»Hi!«, sagt Hans am selben Abend aus dem Telefonhörer.
»Mach mal das Radio leiser«, ruft Rolf Irmela zu, denn der Anruf kommt tatsächlich aus Hongkong. Während sie »Sweet Dreams« von den Eurythmics den Saft abdreht, erzählt Hans, dass er am Wochenende wieder in Hannover sein wird. Sie verabreden sich für Sonnabend zum Frühschoppen in einer Szenekneipe, während Irmela bei ihrem Frauenfrühstück ist.
Das Gespräch mit dem völlig verstörten Tobias und seiner heulenden Mutter sitzt Rolf Albrecht noch in den Knochen, als er am Tag danach, am Sonnabend, auf dem Weg zum Treffen mit Hans ist. Was Tobias erzählte, hatte Rolf kaum glauben können. Missbrauch an Kindern, das ist selten, hatte er gedacht. Aber an Jungen? Davon hatte er überhaupt noch nie gehört. Unvorstellbar war so etwas. Konnte sich ein Junge das ausdenken? Mit so vielen Details? Rolf war übel geworden bei den Schilderungen. Allein ist er überfordert, das weiß er. Am Montag würde er die Hinzuziehung einer Psychologin beantragen.
Während er in Gedanken die Vahrenwalder Straße entlanggeht, bremst ein paar Meter vor ihm ein Wagen, die Tür geht auf, ein Junge fällt
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