Vater Unser in der Hölle: Durch Missbrauch in einer satanistischen Sekte zerbrach Angelas Seele (German Edition)
kleiner Schnappschuss.«
»Nein.«
»Sie sind doch so hübsch.«
Auch das noch. Jetzt reichte es ihr wirklich. Sie wurde zornig.
»Lassen Sie mich endlich in Ruhe, sonst muss ich mich bei der Kongressleitung beschweren!«
Wütend wandte sie sich ab. Da knipste er.
Dieses Bild, diese zornige Abwendung, diesen Schwung des Rockes hatte Lena gesehen.
Aber wo hatte sie das gesehen?
Sie konnte es gar nicht gesehen haben. Nina Temberg besaß das Bild überhaupt nicht. Und sie hatte Angela Lenz niemals davon erzählt. Sie hatte überhaupt niemandem etwas davon erzählt. Keinem Menschen. Sie war sehr zornig gewesen, außerdem war es ihr unangenehm, dass er es doch noch geschafft hatte, sie zu knipsen. Am liebsten wollte sie die Szene gleich vergessen.
Dieses Bild hatten sie benutzt.
Das hatten sie ihrer Klientin gezeigt. Perfide. Nina wusste, dass manche dieser Täter ganz besondere Sicherheitsvorkehrungen treffen, wenn ihre Opfer eine Therapie beginnen. Das ist nicht besonders schwer, da viele dieser Opfer noch Kontakte zum Kult haben – auch wenn ihre Therapeuten und das Alltagssystem der Klientinnen anfangs nicht das Geringste davon ahnen.
Eine amerikanische Kollegin hatte während eines Seminars berichtet, dass heimlich Filme von Therapeuten gedreht und den Klientinnen vorgeführt werden. Dabei foltert man sie – vielleicht gerade in dem Augenblick, wenn die Therapeutin lächelt. Mit dem Ziel, dass das echte Lächeln der Therapeutin während der Therapie zum Auslöser wird von Phantomschmerzen bei der Klientin.
Jemand anders erzählte im selben Seminar, dass die Täter sich aus den Fotos der Therapeuten Masken fertigen, die sie beim Foltern tragen. In der Schmerz- und Trancesituation der Folter glaubt das Opfer, es würde tatsächlich vom eigenen Therapeuten gefoltert. Und traut ihm nie wieder.
Damals hatte Nina kein einziges Wort von alldem geglaubt. Die Geschichten waren ihr vollkommen verrückt vorgekommen. Nun erlebte sie es selbst.
Es gab keine andere Erklärung.
Diesmal dankte sie Gott, dass Angela Lenz inzwischen so viel Vertrauen zu ihr hatte, dass sie die Suggestion gemeinsam auflösen konnten.
Als diese Mauer zwischen ihnen beseitigt war, konnten sie sich an das schwerste Kapitel machen. Sie hatten es lange aufgeschoben. Die Sektenkinder wollten sich endgültig lossagen von Satan. Das war schwer, denn er war ihre Heimat gewesen. Unddieser neuen Heimat trauten sie noch nicht recht. Sie verstanden sie kaum.
Aber immerhin tat sie nicht so weh wie die alte.
Doch das war auch so eine Sache. Das mit dem Schmerz. Noch waren sie überzeugt, dass nur aus Schmerz und Leid Großes entstehen kann. Von früh an hatte man ihnen beigebracht, dass Folter, Qual und Pein gut sind und Satan genehm. Sie hatten das Leid lieben gelernt; was war ihnen auch anderes übrig geblieben, sie waren ja sogar gezwungen worden, darum zu betteln.
Sanftes, einfühlsames Verhalten galt als böse, wurde mit Schmerzen bestraft, von früh an hatte man ihnen Empathie systematisch abtrainiert. Aber auch »gutes«, also grausames Verhalten konnte Schmerzen nach sich ziehen. Einerseits zur »Belohnung«, da Qual etwas »Gutes« sei. Andererseits als Strategie »absichtlicher Inkonsequenz«, um die Kinder im Zustand ständiger Panik zu halten.
Es war ein grausames, ein brutales, ein archaisches Lebensgefühl. Dagegen erschien ihnen die andere Seite, die helle Seite des Lebens, auf die sie nun überwechseln sollten, kraftlos, schlaff und dürftig. Irgendwie pervers. Es fehlte die Schwere, die Tiefe, die bodenloses Leid mit sich bringt. Sie vermissten den Kampf und das intensive Lebensgefühl. Auf ständige Todesgefahr reagierte der Körper mit hoher Adrenalinausschüttung. Körpereigenes Doping, das süchtig machte.
Es würde lange dauern, bis sie die andere Seite des Lebens schätzen könnten.
Aber es war den Versuch wert.
Sie wollten ihn wagen.
Durch eine traumatische Situation mussten sie in der Therapie noch hindurchgehen. Sie mussten »Nein!« sagen. Nein zu Satan. Sie hofften, dass dann ihre Bindung an die Gruppe gelöst wäre und sie frei sein würden.
Traumaarbeit war ein harter Brocken, aber längst nicht mehr so hart wie am Anfang der Therapie. Damals, als in Deutschland noch wenig theoretisches Wissen über optimale Traumaarbeit zur Verfügung stand, hatte es oft mehrere Sitzungen gedauert, bis sie sich durch ein Trauma hindurchgequält hatten.
Heute brauchten sie Sekunden. Die allerdings mussten sehr gut vorbereitet
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