Vater Unser in der Hölle: Durch Missbrauch in einer satanistischen Sekte zerbrach Angelas Seele (German Edition)
sich jetzt nicht ernst nehmen durften. Sie mussten sich schützen. Morgen würden sie die Programmierung mit Nina zusammen auflösen. Und dann würde es ihnen wieder besser gehen. Sie hatten schon ganz andere Sachen hinter sich gebracht. Sie würden es schaffen.
Vollkommen erschöpft schlief Angela ein.
Am nächsten Morgen stand Traute auf.
Heute würde es ein ruhiger Tag werden, ein Entspannungstag speziell für sie. Sie gähnte, reckte sich, alle Glieder taten ihr weh, sie fühlte sich wie gerädert.
Im Bad putzte sie sich die Zähne, spülte den Mund aus und schaute in den Spiegel.
Es war entsetzlich: Mitten aus ihrem Gesicht wuchs ein Ungeheuer. Sie schaute weg und wieder hin. Etwas Schreckliches, das sich bewegte.
»Ich werde verrückt«, dachte sie, »jetzt ist es so weit.«
»Nein«, sagte Sarah, »schau genau hin. Da ist doch überhaupt nichts.«
»Ich schau da nicht noch mal hin. Ich halte das nicht aus. Und wenn ich was sehe, was gar nicht da ist, dann heißt das, dass ich verrückt bin.«
»Nein«, sagte Sarah, »ganz ruhig. Programmierung! Du weißt das doch. Die löst eine Halluzination aus, das weißt du doch. Das kriegen wir weg. Nimm jetzt meine Hand. Nun gehen wir ganz langsam an den Spiegel heran. Ganz dicht. Mach die Augen auf. Nun schau auf den Boden. Siehst du, der ist da unten ganz stabil, ganz fest, ganz sicher. Da stehst du drauf. Tritt fest auf. Fühlst du das? Siehst du. Und jetzt guck an deinen Beinen hoch. Guck auf unsere Hände. Schau sie genau an. Die legen wir jetzt ganz langsam auf die Nase.«
Traute führte ihre Hand langsam zur Nase und folgte ihr mit dem Blick.
Das Ungeheuer war weg. Wenn sie Sarah nicht hätten.
Traute zog sich an und begann, in der Wohnung umherzugehen. Als sie am Fenster vorbeikam, warf sie einen Blick hinaus. Da standen sie wieder, da unten, mindestens fünf von ihnen. Sie duckte sich und blieb so hocken, minutenlang. Sie hatte nicht den Mut, wieder aufzustehen.
Jetzt holen sie mich! Ich halt das nicht mehr aus, wäre ich doch lieber tot!
»Nein«, sagte Sarah, »da ist nichts. Ganz ruhig. Schau aus dem Fenster, kein Mensch.«
»Ich schau nicht aus dem Fenster. Ich stehe hier nie wieder auf. Ich bleibe hier sitzen.«
Sie fing an zu weinen.
»Zimperliche Ziege«, brummte Sigurd im Inneren. Traute konnte seine Worte deutlich hören. Das half ihr auch nicht gerade weiter. Aber Sigurds Strategien waren häufig etwas brutal. Er war es gewesen, der Traute kochendes Wasser über den Arm gegossen hatte, als sie sich so schwertat, die Existenz der anderen zu akzeptieren. Schon früh hatten die Innenpersonen beschlossen, dass Traute, die sie als »Gastgeberin« und Hauptperson empfanden, eines Tages alle ihre Erinnerungen tragen sollte. Schließlich hatten sie ihr all die furchtbaren Erlebnisse abgenommen, weil Traute sie nicht ertragen konnte. Traute hatte mit Zeitverlust bezahlt, aber das – fanden sie – war der geringere Preis. Nun war es an der Zeit, den Spieß mal umzudrehen. Hatten sie beschlossen. Aber Traute wollte einfach nicht hinschauen, wollte nichts wissen, machte die Augen zu, verschwand im Inneren, verlor Zeit. Die anderen waren ungeduldig geworden: »Wir haben es ausgehalten, und sie will es sich nicht mal angucken.«
Da hatte Sigurd beschlossen: »Die muss mal einen Eindruck von der Wirklichkeit kriegen.«
Als sie an den Herd gegangen war, um sich einen Kräutertee aufzubrühen, hatte er Besitz vom rechten Arm ergriffen und ihr das kochende Wasser über den linken gekippt.
Und heute zickte sie schon wieder so rum! Sigurd war sehr ungeduldig. Bloß wegen ein paar blöden Bullen und ein paar Typen, die überhaupt nicht da waren, die sie aber sah. Wenn er wegen solcher Kleinigkeiten ausgerastet wäre, sie wären alle nicht mehr am Leben. Man muss sich zusammennehmen. Den innerenSchweinehund überwinden. Ein paar Tritte in den Arsch und dann geht es wieder. Ein paar Stromstöße, und alle sind wieder auf Zack. So muss man das machen, wenn man Leistung bringen will. Und nicht rumjaulen.
Doch Traute hockte am Boden und jammerte: »Es hat doch alles keinen Zweck.«
»Doch«, sagte Sarah. »Ganz ruhig. Geh hinter die Gardine, dann kann dich keiner sehen. Und nun schau ganz genau hin.« Es war niemand da.
Irgendwie überstanden sie auch diesen Tag.
Gemeinsam mit Nina konnten sie abends diese Programmierung auflösen. Ein Erfolg. Sie wussten, es würden noch mehr kommen. Mehr Programmierungen. Aber auch mehr Erfolge. Nicht dran denken.
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