Vater Unser in der Hölle: Durch Missbrauch in einer satanistischen Sekte zerbrach Angelas Seele (German Edition)
ihre Therapievereinbarung, ihre Arbeitshypothese geworden.
Angela Gudrun ist nur stark, wenn sie in den Vordergrund geholt wird. Aus eigener Kraft schafft sie das selten.
Viele Kultüberlebende haben eine solche Persönlichkeit in ihrem System. Eine, die in der Lage ist, trotz schwerster sichtbarer Verletzungen zu behaupten: Das hab ich alles selbst gemacht.
Speziell geschulten Anwälten, Menschen, die gelernt haben, auf dem System Multipler Persönlichkeiten zu »spielen«, kann es vor Gericht gelingen, diese Person anzusprechen und nach vorne zu holen. Zum Beispiel in einem Missbrauchsprozess. Da steht sie dann plötzlich und sagt: »Das hab ich alles gelogen. Mein Vater war doch immer nur lieb zu mir.« Dieser scheinbare Meinungswechsel zählt oft mehr als all ihre früheren Aussagen, als Aussagen von Sozialarbeitern, Ärzten, Gutachtern.
Es gibt noch einen weiteren Grund zu leugnen: Die Wahrheit ist einfach zu schrecklich. Unerträglich. Es darf nicht sein, dass die eigene Kindheit so grauenvoll war. Wenn sich wenigstens ein einziger Persönlichkeitsanteil diesen Zweifel noch erhält, trotz aller Beweise, dann bleibt noch ein winziger Rest Hoffnung.
»Vermutlich ist die wahre Funktion von Angela Gudrun«, meldet sich Sarah zu Wort, »dass sie ein Stück Distanz schafft, einen Schutz, damit wir im Alltag normal leben und vergessen können, was wir erlebt haben.«
Wahrscheinlich, sagen sie, stimmt wenigstens das nicht. Das mit dem Kind. Am besten sofort vergessen. Nicht daran denken. Nicht darüber reden.
Das funktioniert nicht mehr.
Sie müssen darüber sprechen. Der einzige Weg in die Freiheit führt mitten hindurch.
Sie sind überzeugt, dass Gretes Kind, ihr Patenkind, noch bei Satan ist. Das ist die stärkste Bindung. Es lässt sie nicht los.
Gezielt hatte man Grete geschwängert. Wie man es auch bei Angela versucht hatte. Keiner weiß, wer schließlich der Vater war.
Das ist die Absicht. Satan soll der Vater sein.
1977
Die RAF erschießt den Dresdner-Bank-Chef Jürgen Ponto
Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer wird entführt und ermordet
Roman Polanski: Gefängnisstrafe wegen Missbrauchs einer 13-Jährigen
Im Kino: »Carrie – Satans jüngste Tochter«, »Rocky Horror Picture Show«
Im Fernsehen: »Picknick am Valentinstag«
Hitparade: »I donʼt want to talk about it«
Die BILD-Zeitung startet die Aktion »Ein Herz für Kinder«
Schweizer Verhältnisse
Etwa hundert Frauen im Jahr soll es in Deutschland geben, die auf diese Weise, mit diesem Ziel geschwängert werden. Diese Zahl nimmt Angela Lenz an, Statistiken gibt es nicht. Sie schätzt das aus der Zahl schwangerer Frauen, die ihr dort begegnet sind. Und aus der Zahl der Opferungen, die sie miterleben musste.
Die Bilder jenes Hauses werden nie aus ihrem Kopf verschwinden. Oft haben sie es gezeichnet. Einige der inneren Kinder können zauberhaft malen. Es sind geteilte Bilder. Oben ist alles bunt und lustig und vergnügt. Unten ist alles dunkel und schwer und traurig. Das Dunkle hat die Kraft. Das Helle empfinden sie als zu leicht, eine Lügenwelt, die um die andere Seite weiß, aber so tut, als gäbe es sie nicht.
Ein Haus mit schwarzen Ziegeln. Am Hang gelegen, zur Hangseite hin eine Etage, zur anderen zwei. Über die ganze Länge ein Balkon. Ein kleiner Bach in der Nähe. Aber viel konnten sie nicht erkennen, denn die Kinder wurden sofort in den Keller gebracht. Nur dass es die Schweiz war, das wussten sie.
Irgendwo zwischen Zürich und Bern, so vermutete ein Mädchen. Die kam aus Lausanne und gehörte einer anderen Gruppe an, einer, die sich »Luzifers Kinder« nannte. So sagte sie. Das war das Einzige, was sie miteinander besprachen. Reden war verboten. Wer dabei erwischt wurde, wurde geschlagen. Aberes gab wenig Gelegenheit zum Reden in dieser Woche, ständig waren sie müde von den Tabletten. Dämmerten kraftlos vor sich hin. Aber schlafen ließ man sie auch nicht. Nur manchmal gab es ein wenig Wasser und Brot.
Das ist eine Kombination, mit der viele Kulte und Sekten arbeiten: Schlafentzug, Proteinreduzierung, emotionale Isolation, Entkräftung. Und Angst.
Drogen, Schmerz und die durch ihn ausgelöste hohe Adrenalinausschüttung würden für die Kinder in der Schweiz später noch dazukommen. Alles zusammen bewirkt einen Zustand hoher emotionaler und mentaler Aufnahmebereitschaft für hypnotische Befehle. 98 Folteropfer aus Deutschland, Vietnam, Kambodscha, Jugoslawien, Abu Ghraib, aus allen Kriegen wissen das.
Drei Nächte
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