Vater Unser in der Hölle: Durch Missbrauch in einer satanistischen Sekte zerbrach Angelas Seele (German Edition)
in ihrer Tasche herum und überreichte Nina Temberg einen Brief, den »die Großen« geschrieben hätten. Während die Therapeutin ihn las, kuschelte sich Lena in Ninas Schoß zusammen. Nina kommentierte den Brief, und dann war es Viertel nach fünf.
»So, Lena«, sagte Nina, »und nun möchte ich gerne mit Sarah sprechen.«
Sofort richtete sich Angela auf, strich sich die Haare aus dem Gesicht, setzte sich Nina schräg gegenüber und schaute ihr ernst und ruhig in die Augen. Eine erwachsene Frau.
»Sarah«, sagte Nina Temberg, »du weißt, ich habe Stefanie versprochen, dass ich sie genau um zwanzig Minuten nach fünf hole. Versuch doch bitte, in der Nähe zu bleiben, damit du mitbekommst, was wir besprechen.«
Sarah nickte und senkte den Blick.
Nach anderthalb Jahren Erfahrung als Therapeutin einer multiplen Patientin bewegte sich Nina Temberg in dem Persönlichkeitssystem ihrer Klientin wie in einem vertrauten, aber komplexen U- und S-Bahnnetz auf mindestens fünf Ebenen. Sie wusste, dass sich manche Personen überhaupt nicht direkt erreichen ließen, sondern nur auf Umwegen, man musste mehrmals an Knotenpunkten umsteigen, die Linien wechseln, hin und wieder gabes zwischendurch auch längere Aufenthalte. Manche Stationen konnten nur sehr selten angefahren werden, einige waren sogar total geschlossen – zeitweilig aus dem Verkehr gezogen, im Umbau oder völlig zubetoniert.
Hin und wieder kam es auch vor, dass Stationen in Vergessenheit gerieten und niemand mehr wusste, wo sie denn eigentlich lagen. Manchmal machte sich die kleine Lena dann im Inneren auf die Suche nach den Verlorengegangenen.
Wichtige Bedingung für eine erfolgreiche Therapie war es, alle Persönlichkeiten in Angela Lenz gleichermaßen ernstzunehmen, ihre Erinnerungen und Ansichten mit gleicher Offenheit anzuhören. Es ergab sich, dass sie mit einigen Persönlichkeiten intensiver im Gespräch blieb, dass einige therapiebedürftiger waren als andere.
Der Hauptknotenpunkt aber war eindeutig Sarah, die Netzplantechnikerin des Systems. Viele Personen ließen sich überhaupt nur über Sarah ansprechen. Sie bildete auch eine Schutzmauer und stand zwischen manchen besonders ängstlichen oder gefährdeten Personen und der Welt draußen.
So nahm Nina häufig zunächst Kontakt mit Sarah auf, die schon mal etwas über die Befindlichkeit dieser Personen sagen konnte und als Vermittlerin den Zugang erleichterte.
Heute half das überhaupt nicht.
»Stefanie«, sagte Nina, »ich möchte mit Stefanie sprechen.« Nichts.
»Wo auch immer Stefanie jetzt ist, sie wird mich hören und meiner Stimme folgen und zu mir kommen.«
Stefanie folgte nicht.
Nina sprach einfach weiter.
Es dauerte sehr lange, bis Angela den Kopf hob, um sich schaute, sich schüttelte und begann, mit den Fingern beider Hände unruhig und ziemlich laut auf den Boden zu trommeln.
Etliche von Angelas Persönlichkeiten zeigten ausgeprägte individuelle Eigenschaften und Angewohnheiten, die ihr Erscheinenbegleiteten und an denen man sie erkennen konnte, auch wenn die eine oder andere manchmal überhaupt noch nicht verraten wollte, dass sie gerade die Außenkontrolle hatte.
Diese unruhig trommelnden Fingerspitzen waren es, an denen Nina Temberg von nun an erkennen würde, dass Stefanie da war, selbst wenn diese noch kein einziges Wort gesagt hatte.
»Guten Tag, Stefanie«, sagte Nina, »ich bin Nina Temberg, die Therapeutin, mit der du vor vier Tagen telefoniert hast. Es war gut, dass du mich angerufen hast. Ich freue mich, dich kennenzulernen. Du bist hier in meinem Therapieraum. Und es ist jetzt genau zwanzig Minuten nach fünf, so wie wir es miteinander abgemacht hatten. Schau dich bitte ganz in Ruhe um und guck, ob du dich wohlfühlst und ob du auch bequem sitzt. Ich kann dir gerne noch eine Decke holen, falls dir kalt ist, oder etwas zu trinken, wenn du möchtest. Einen Saft vielleicht. Oder möchtest du lieber etwas Kakao?«
Kakao war der richtige Vorschlag.
Während Nina das Getränk zubereitete, schaute Stefanie sich um und überlegte dabei, was sie überhaupt sagen sollte. Sie freute sich, die Frau mit der weichen Stimme zu sehen, und sie hatte so viele Fragen, dass sie anfangs gar nichts sagen konnte. Außerdem war es das erste Mal, dass sie überhaupt das Gefühl hatte, jemanden nach den vielen Rätseln in ihrem Leben fragen zu können. Aber zuerst konnte sie gar nichts sagen. Stumm saß sie da und pustete in ihren Kakao.
Nina spürte genau, wie Stefanie zumute war, und
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