Vater Unser in der Hölle: Durch Missbrauch in einer satanistischen Sekte zerbrach Angelas Seele (German Edition)
immerhin hatte sie geschafft. Alles hatte sie hinter sich gelassen. Es bestand keinerlei Kontakt mehr zu ihrer Herkunftsfamilie. Sie war raus aus dieser ganzen Clique von Kinderschändern.
Gott sei Dank.
Denn eines wusste Nina damals genau: Wenn Angela Lenz noch Kontakt gehabt hätte zu diesen Menschen, würde sie nicht mit ihr arbeiten können.
Therapie, während der Missbrauch noch andauerte – unmöglich.
Komplexes System auf fünf Ebenen
Montagnachmittag. Fünf vor fünf. Es klingelte.
Wer würde heute zu ihr kommen?
Es hatte lange und kräftig geklingelt. Also die Jungs. Nina Temberg öffnete die Tür ihrer Praxis, ließ Angela Lenz herein und schaute.
So machten sie es immer.
Sie schauten sich ganz lange an.
Für Angela Lenz war die Sache ziemlich einfach: Sie wusste, dass sie immer Nina Temberg, ihre Therapeutin, vor sich hatte. In welcher Verfassung Nina war, spürte sie sofort, brauchte nicht einmal darüber nachzudenken. Heute war Nina ziemlich gut drauf, gespannt, neugierig, nah, weich, offen, aber, wie ganz oft, mit einem Untergrund von Traurigkeit. Und sie hatte wieder mal zu wenig geschlafen.
Nina hingegen musste immer erst mal schauen, wer da überhaupt vor ihr stand: Kam Angela auf sie zu und umarmte sie, dann war die Sache klar: Die Kindpersönlichkeiten waren draußen, und das warf die beunruhigende Frage auf, wer wohl den Wagen gefahren hatte. Sie wusste, dass viele innere Kinder von Multiplen Persönlichkeiten mit geradezu diebischem Vergnügen Auto fuhren – ein Vergehen, bei dem sie bei keiner Verkehrskontrolle geschnappt werden konnten. Aber natürlich hatte eine Zehnjährige, auch wenn sie im Körper einer Zweiunddreißigjährigen steckte, zwar einen Heidenspaß, aber weder den ausreichenden Überblick noch genügend Verantwortungsgefühl, umein Auto lenken zu können. Aber so war das eben mit Kindern. Nina Temberg machte einen geistigen Vermerk, das Thema noch einmal ernsthaft mit Angela zu besprechen.
Blieb Angela aber auf Abstand und schüttelte ihr nur kräftig die Hand, so wie diesmal, dann hieß das, die Jungs waren gekommen. Es hatte sich also keine der weiblichen Persönlichkeiten getraut, den Wagen zu fahren. Sie hatten Angst. Immer dann fuhren die Jungs. Die männlichen Persönlichkeiten hatten Schutzfunktionen, sie waren Aufpasser, Bewacher, und einige von ihnen waren sogar in militärischen Kampftechniken ausgebildet.
Das mit den männlichen Persönlichkeiten in ihren weiblichen Klientinnen war zuerst ein erheblicher Schock gewesen. Für Nina genauso wie für Elisabeth, hatten sie doch beide früher einmal beschlossen, als feministische Therapeutinnen nur mit Frauen zu arbeiten. Aber früher war die Welt noch etwas einfacher gewesen. Außerdem stellte dies längst nicht die einzige Überraschung dar, die ihre multiplen Klientinnen ihnen im Laufe der Jahre bereiteten.
Da die Jungen gekommen waren, ging es recht zügig voran mit dem Aufbau von Matten und Kissen zum Sitzen in Ninas Therapieraum. Als die Polster so lagen, wie alle es gemütlich fanden, tauchte Lena auf und kümmerte sich um die beiden Teddybären, die im Therapieraum saßen.
Die Teddys waren Lenas Aufgabe. Lena war sieben, ein kleines Mädchen mit einer schrecklichen Vergangenheit, die in Nina ihre Ersatzmama gefunden hatte. Angelas Bewegungen wurden kindlich, ihr Atem schneller, ihre Stimme leise und höher, die Muskeln in ihrem Gesicht entspannten sich sichtbar, Falten in den Augenwinkeln verschwanden. Das Haar fiel ihr ins Gesicht, und meistens linste sie unter einer Locke hervor. »Lena ist ein keckes Kind«, hatte Magda einmal in einer Mischung aus Tadel und Anerkennung gesagt. Magda, das war eine der Mitbewohnerinnen von Lena in Angelas Körper. Eine Erwachsene natürlich.
Lena erkundigte sich ausführlich nach dem Befinden der Teddys, die sie nun einige Tage nicht gesehen hatte. Fragte die Teddys, ob sie vielleicht einsam gewesen seien, ob sie sich denn jetzt wohlfühlten, und bekam zur Antwort, dass sie in der Zwischenzeit ein wenig Bauchschmerzen gehabt hätten, die nun aber wieder besser seien. Die Therapeutin wurde ernsthaft gemahnt, doch etwas besser auf die Teddys zu achten, weil Lena sich eben auf sie verlassen müsse, wenn sie nicht da sei. Sie seien ihr schließlich anvertraut, und das sei eine große Verantwortung, um seine Kleinen müsse man sich immer kümmern, belehrte sie ihre Therapeutin und formulierte damit gleichzeitig ihre Vorstellung von einer guten Mutter.
Dann wühlte Lena
Weitere Kostenlose Bücher