Vater Unser in der Hölle: Durch Missbrauch in einer satanistischen Sekte zerbrach Angelas Seele (German Edition)
passiert nur, wenn es kleinen Kindern sehr schlecht geht.«
»Da sehen Sie mal, was für ein Unsinn das alles ist, was Sie hier erzählen. Ich hatte nämlich eine tolle Kindheit«, trumpfte Stefanie auf.
»Erzähl doch mal davon. Was war denn das Tolle?«
»Mein Papi! Der war der beste Vater der Welt.«
»Wieso?«
»Er hat immer mit mir gespielt und mir ganz tolle Geschenke gemacht.«
»Was habt ihr denn gespielt?«
»Na, so Spiele halt!« Stefanie war genervt. Was war das für ein blödes Frage-und-Antwort-Spiel hier?
»Und was für Geschenke?«
»Weiß ich doch nicht! Was man so kriegt als Kind. Ich glaube, ich will jetzt lieber nach Hause.«
»Stefanie, die anderen Personen haben mir schon einiges von eurer Kindheit erzählt. Das klang gar nicht so schön.«
»Die lügen! Ich hatte den besten Vater der Welt. Meine Kindheit war absolut glücklich! Ich kenne niemanden, der eine so tolle Kindheit hatte. Super! Na gut, meine Mutter war nicht immer so toll. Aber um die haben wir uns meistens nicht gekümmert, der Papi und ich. Ich war sein Liebling, sein Engelchen. Angelina hat er immer gesagt.«
Sie begann zu weinen. Nina hatte starkes Mitgefühl mit Stefanie. So viel musste sie verkraften. Und so viel mehr würde noch kommen. Erst die verlorenen Jahre. Dann die anderen Personen, mit denen sie sich den Körper teilen musste, den sie für ihren eigenen hielt. Und jetzt wollte sie ihr auch noch ihren Vater kaputtmachen. Das war natürlich ganz unmöglich.
Nina hockte sich neben Stefanie, die den Kopf gesenkt hatte, so dass ihr die Tränen bis zur Nasenspitze liefen und von dort auf ihre Jeans tropften. Nina berührte sie sehr vorsichtig an der Schulter und reichte ihr ein Taschentuch.
»Es ist mir alles zu viel und zu durcheinander«, flüsterte Stefanie, »ich wünsche mir mein altes Leben zurück. So heil und friedlich und schön und liebevoll. Und ich möchte so gern mal wieder Klavier spielen mit meinem Papa.«
Ach, dachte Nina, das ist die Klavierspielerin. Den anderen Persönlichkeiten hatte sie schon mehrmals angeboten, auf ihrem Klavier zu spielen, aber bisher hatten alle abgelehnt und gesagt: »Klavier spielen? Kann ich nicht.«
Mit vielen Einwänden und trotzigem Widerstand musste Nina noch fertig werden, bevor Stefanie bereit war, sich zu verabschieden. Mehrfach musste Nina ihr versprechen, sie zur verabredeten Zeit beim nächsten Treffen zu holen. Auf Ninas Bitte, bis dahin nicht nach draußen zu kommen, gab Stefanie nur ausweichende Antworten und guckte aus dem Fenster.
Nina hatte ein sehr unbehagliches Gefühl. Schließlich gelang es ihr aber doch, Stefanie so weit zu beruhigen, dass sie sich in Trance versetzen ließ und verschwand, so dass Nina Temberg wieder mit Sarah sprechen konnte.
Sarah setzte sich aufrecht hin, schob die Haare aus dem Gesicht, putzte sich die Nase und schaute Nina, die sich wieder schräg gegenüber auf ihr Kissen gesetzt hatte, direkt in die Augen. Sarah musste mit den Resten des Körpergefühls fertig werden, das Stefanie hinterlassen hatte. Aber nur kurz, denn Sarah selbst hatte wenig Körpergefühl. Sie empfand keine Schmerzen.Sarah war Beobachterin, Chronistin, sie war verantwortlich für die innere Organisation. Sie konnte Sympathie und Empathie empfinden. Aber keine Bauchschmerzen.
Zu Ninas Verblüffung hatte Sarah überhaupt nichts von dem Gespräch zwischen Nina und Stefanie mitbekommen. Sarah und alle anderen Persönlichkeiten waren völlig amnestisch für Stefanies erste Therapiestunde. Normalerweise wusste Sarah immer, was passierte. Und auch die meisten anderen konnten inzwischen wie durch ein geöffnetes Fenster zuschauen und zuhören. Denn nach über einem Jahr Therapie war Angelas innere Landschaft so organisiert, dass viele Personen ein »Mit-Bewusstsein« von den Gesprächen und Gedanken der anderen hatten. Sie waren »co-conscious«, wie amerikanische Mediziner den Zustand bezeichnen.
Diesmal waren sie es nicht.
Heute hatte Stefanie alle anderen weggedrückt.
Also musste Nina den Inhalt des Gesprächs noch einmal für Sarah wiederholen.
Sie verabredeten, dass Sarah alles tun würde, um direkte Begegnungen zwischen Stefanie und der Familie zu verhindern. Aber sie konnte versuchen, der Neuen die Wohnung zu zeigen und ihr einiges von der Familie zu erzählen. Bei den anderen Persönlichkeiten funktionierte das hervorragend. Manche empfanden Sarahs Worte wie eine Gedankenübertragung, während andere das Gefühl hatten, es sei ihnen gerade
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