Vater Unser in der Hölle: Durch Missbrauch in einer satanistischen Sekte zerbrach Angelas Seele (German Edition)
begann: »Ich erzähle dir am besten erst einmal einiges, was du wissen solltest. Du kannst mich immer fragen, wenn du etwas nicht verstehst. Wir haben jetzt das Jahr 1993, den 13. September. Schau, ich zeige dir meinen Kalender. Und hier ist eine Tageszeitung. Du hast mir erzählt, dass deine letzte Erinnerung aus dem Jahr 1975 stammt, von der Beerdigung deines Vaters. Weißt du danach noch irgendetwas?«
Stefanie schüttelte den Kopf.
»War das denn früher schon mal so, dass du Zeit übersprungen hast?«
Stefanie nickte.
»Woran hast du das gemerkt?«
»Manchmal bin ich freundlich auf jemanden zugegangen, um ihn zu begrüßen. Dann war ich plötzlich zu Hause, und es war ein anderer Tag.«
»Auf wen bist du da zugegangen?«
»Irgendein Mann aus unserer Straße oder Freunde und Kollegen von Papa.«
»Was für ein Gefühl hattest du da? Spüre bitte einmal genau nach.«
»Angst. Aber ich wusste nie, warum. Die hatten mir gar nichts getan.«
»Stefanie, haben andere Leute das auch gemerkt, dass du weg warst?«
»Nein, glaub ich nicht, aber sie haben oft gesagt, dass ich lüge. Und vielleicht habe ich ja auch gelogen. Ich musste ganz oft eine Tafel Schokolade zu irgendeinem doofen Mädchen aus der Klasse bringen und mich bei ihr entschuldigen, weil ich die angeblich gehauen hatte. Aber ich hatte die gar nicht gehauen. Und wenn ich gesagt habe, dass ich die nicht gehauen hatte, dann haben meine Eltern geschimpft und gesagt, dass ich schlecht bin, weil ich nicht nur haue, sondern auch noch lüge. Vielleicht habe ich ja gelogen. Ich weiß es aber nicht. Und ich wollte bestimmt niemanden hauen. Und lügen wollte ich auch nicht.«
»Stefanie, ich glaube dir, dass du niemanden gehauen hast. Du hast bestimmt die Wahrheit gesagt. Wahrscheinlich hat jemand anders das Mädchen gehauen.«
»Das dachte ich auch. Aber alle haben immer gesagt, dass ich es war!«
»Aber sie hatten unrecht. Ich glaube, dass jemand anders da war, als du nichts mitgekriegt hast. Jemand, der in der Zeit weitergemacht hat. Du bist nicht die Einzige, die so etwas erlebt,Stefanie. Ich kenne mehrere Frauen und Mädchen, denen Zeit fehlt genauso wie dir und denen man Dinge vorwirft, die sie gar nicht getan haben. Dafür gibt es eine Erklärung. Die Erklärung ist, dass in deinem Körper noch andere Personen leben, die manchmal die Kontrolle übernehmen. So wie du jetzt.«
»So ʼn Quatsch«, sagte Stefanie, »kann ich noch einen Kakao haben?«
Diesmal blieb Nina sitzen.
»Später«, sagte sie, »jetzt würde ich dich gerne mit einer von diesen Personen bekannt machen. Ich glaube, du hast ihre Stimme schon gehört. Es ist Sarah.«
Doch so sehr Nina sich auch bemühte, es gelang ihr nicht, Sarah zu rufen, solange Stefanie da war.
»Sie ist ja sehr nett«, dachte Stefanie, »aber ich glaube, sie spinnt.«
Gerade jetzt hätte Nina gern Sarahs Unterstützung gehabt. Aber es klappte nicht.
Sarah könnte man fast Ninas »Co-Therapeutin« nennen: Sie hatte sich in den anderthalb Jahren, seit Angela bei Nina Temberg Therapie machte, ein hervorragendes theoretisches und praktisches Wissen über die Therapie Multipler Persönlichkeiten angeeignet. Zusammen mit ihren erstklassigen Kenntnissen über Angelas Geschichte, die sie als wichtigster innerer Beobachter sowieso hatte, war sie eine unschätzbare Hilfe während der Therapie. In vielen Fällen genügte es, mit Sarah Absprachen zu treffen, und Sarah bearbeitete die Themen zu Hause mit anderen Innenpersonen weiter. Sarah hatte den besten Überblick über das Gesamtsystem, und sie wusste immer, wer gerade in Not war und besondere Aufmerksamkeit brauchte.
Aber heute war einfach nichts zu machen.
So versuchte Nina Temberg, Stefanie langsam zu erklären, dass sie diesen Körper, den sie für ihren eigenen hielt, tatsächlich mit anderen Personen teilte. Sie sagte ihr nicht, mit wie vielen. Das war im Augenblick nicht nur unwichtig, sondern hätte Stefanienur noch mehr beunruhigt. Wichtig war vor allem, dass Stefanie Vertrauen entwickelte und eine Erklärung für ihre vielen Amnesien bekam.
Doch Stefanie reagierte, wie eine überforderte Dreizehnjährige eben reagiert: trotzig und verstockt. Bockig hockte sie auf ihrem Polster, schaute aus dem Fenster, biss auf ihren Nägeln herum oder klopfte mit den Fingern hektisch auf den Boden.
Immerhin hörte sie zu.
Vorsichtig begann Nina, über Stefanies Kindheit zu sprechen: »Es gibt einen Grund, warum so viele Persönlichkeiten entstehen. So etwas
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