Vater Unser in der Hölle: Durch Missbrauch in einer satanistischen Sekte zerbrach Angelas Seele (German Edition)
Muskeltonus, die Art zu lächeln, die Gesten, sie hatten auch unterschiedlichen Körpergeruch bemerkt, zum Beispiel, wenn ein halbstarker Jugendlicher auftauchte. Mehr noch: Wespenstiche verschwanden von einer Sekunde auf die andere, Erdbeerallergien, Heuschnupfen, Erkältungen tauchten genauso schnell auf, wie sie plötzlich nicht mehr vorhanden sein konnten. Brillenstärken wechselten von kurz- bis weitsichtig. Sie hatte gesehen, dass ein und dieselbe Frau, der zweimal an einem Tag Blut abgenommen wurde, ganz unterschiedliche Blutbilder haben konnte – von unterschiedlichem Puls und Blutdruck ganz abgesehen. Lauter Erscheinungen, zu denen Nina Temberg früher gesagt hätte: Das kann nicht sein. Doch inzwischen hatte sie all das selbst beobachtet. Und musste nun ganz neu nachdenken über den Einfluss der Seele auf den Körper.
Nina liebte es, neu nachzudenken.
Sie blickte auf. Wo war der Hund?
»Charly!«, rief sie. Der Hund war verschwunden. Sie gingen zurück und sahen, wie Charly geradezu manisch in einem Erdhügel grub. Die Erde flog zwischen ihren Hinterbeinen hervor, ihr Kopf war nicht mehr zu sehen. Sie unterbrach ihre Grabarbeiten nicht einmal, als die Frauen näher kamen. Elisabeth musste sie an die Leine nehmen und gut hundert Meter weitergehen, bevor die Hündin sich beruhigte.
»Was ist denn los, Charly?«, fragte Elisabeth, kehrte dann aber zu ihrem vorherigen Thema zurück: »Eine totale Amnesie, sagst du, hatten die anderen?«
»Ja. Niemand hat irgendetwas mitbekommen von Stefanies Auftauchen, noch nicht einmal Sarah.« Nina war aufgewühlt von dieser perfekten Amnesie ihrer Klientin, die sie per Telefon hatte mitverfolgen können. »Und Sarah hatte doch bisher den vollkommenen Einblick. Die weiß sonst genau, was passiert ist. Bis in die frühe Kindheit zurück. Aber diesmal? Überhaupt nichts mitgekriegt.«
Schweigend gingen sie weiter. Elisabeth löste Charly, die sich wieder beruhigt hatte, von der Leine. Jetzt blieb sie in der Nähe.
»Wenn ich Stefanie mit Sarah bekannt gemacht habe, wird Sarah ihr nach und nach die anderen vorstellen. Das machen die inzwischen oft allein.«
Nina Temberg sprach häufig im Plural von ihrer Klientin. Sie hatte inzwischen so viele unterschiedliche Persönlichkeiten von Angela Lenz kennengelernt, dass es absurd schien, von einer Person zu reden – obwohl Nina natürlich immer bewusst war, dass Angela in Wirklichkeit ein einziger Mensch war.
»Und eines Tages«, verfolgte Nina ihren Therapieplan weiter, »muss sie natürlich auch Traute kennenlernen. Das ist die Person, die da weitergemacht hat, wo Stefanie aufgehört hat. 1975 am Grab des Vaters.«
»Ihre andere Hälfte?«, fragte Elisabeth.
»Genau. Stell dir das bloß mal vor: Du triffst eine Frau, die die zweite Hälfte deines Lebens gelebt hat.«
»Tolle Chance«, meinte Elisabeth, »ich glaube, ich würde lieber die mit der ersten Hälfte kennenlernen.«
»Auch wenn du von der ersten Hälfte überhaupt keine Ahnung hast? Stefanie weiß ja nichts davon. Das heißt, sie weiß noch nicht einmal, dass sie nichts weiß. Amnesie der Amnesie. Sie ist fest überzeugt, dass sie einen wunderbaren Vater hatte. Und sie denkt, sie sei ganz allein in ihrem Körper. Ich glaube, sie hat noch nicht wirklich begriffen, wie viele Jahre seit damals vergangen sind, dass sie inzwischen verheiratet ist und Kinder hat. Sie hat nur ein mulmiges Gefühl, sie hat Angst und sehr viel Abwehr.«
Schweigend überquerten sie eine Lichtung.
Charly hob den Kopf: Aus dem gegenüberliegenden Waldstück trat ein Mann und kam direkt auf sie zu. Dann entdeckte er Charly, lächelte sogleich die Frauen an, sagte: »Na, mit dem Hund brauchen Sie aber keine Angst zu haben« und ging weiter.
Wieder einer, der keine Ahnung hat, was er alles über seine Phantasien verrät, dachte Elisabeth und schaute Nina an.
Nina schmunzelte.
»Komm«, sagte sie, »wir sind spät dran. Tado und Richard haben sicher schon eingekauft und schnippeln das Gemüse klein.« Das war die zweite Hälfte ihrer gemeinsamen Sonnabende: Die Männer von Nina und Elisabeth kochten zusammen ein Menü, und zu viert aßen sie es auf. Manchmal zog sich das über den ganzen Nachmittag und Abend hin.
Nina lächelte die Freundin an.
Wie gut, dass Angela Lenz verheiratet ist, dachte sie. Mit einem netten, fürsorglichen, mit einem ganz normalen Mann. Wie gut, dass sie es geschafft hatte, rauszukommen aus diesem ganzen Elend. Was für Probleme es auch immer noch gab, das
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