Vater Unser in der Hölle: Durch Missbrauch in einer satanistischen Sekte zerbrach Angelas Seele (German Edition)
Nasenspitze, der Roman sank auf den Schoß, und sie schlief ein. Dann wieder erwachtesie, atmete tief ein und genoss den Duft aus den Oleanderhecken, die Ruhe, die Entspannung.
Und wäre doch viel lieber zu Hause gewesen.
Denn inzwischen hing sie genauso an Stefanie und den anderen Personen in Angela Lenz wie diese an ihr. Sie hätte sie niemals im Stich gelassen.
Als Nina aus dem Urlaub zurückkam, ging ein Aufatmen durch das gesamte Persönlichkeitssystem von Angela Lenz. Wie nach jedem Urlaub, wie nach jeder kurzen oder längeren Abwesenheit ihrer Therapeutin. Denn Nina Temberg war der erste Mensch nach dreißig Jahren, dem sie ihre wirkliche Geschichte erzählen konnten.
Der Brief zeigte Nina deutlich, dass Stefanies Bild ihrer wunderschönen Kindheit inzwischen die ersten Risse bekommen hatte. Vermutlich war sie nun auch so weit, sich die Geschichten anzuhören, die die anderen Personen berichteten. Sich damit zu beschäftigen, was die anderen in jener Zeit erlebt hatten, die für Stefanie im Nichts versackt war oder nur undeutlich, als schlimme Träume, an ihr Bewusstsein gerührt hatte.
Vorläufig sollte es nur ein knapper Überblick sein, den Stefanie über die andere Hälfte ihres Lebens bekam. Kurze Szenen aus einer Kindheit, die sie nicht miterlebt hatte. Kleine Episoden, von denen Nina annahm, Stefanie würde sie verkraften können. In der Hoffnung, dass sich vielleicht irgendwann ein Bild ergeben würde vom wirklichen Leben der Angela Lenz. Soweit es Nina Temberg inzwischen bekannt war.
Denn immer noch kam ihr diese tastende Suche nach Angelas Vergangenheit vor, als ob sie von Sandbank zu Sandbank springe, inmitten eines weiten Meeres von Vergessen. Und manchmal hatte sie das beängstigende Gefühl, dass wie bei einem Eisberg der größte Teil noch von Wasser bedeckt war. Sie war auf Überraschungen vorbereitet. Gleichzeitig hoffte sie, dass keine mehr kämen.
Und immer wieder erlebte Nina Temberg auch Phasen, in denen sie – genau wie Stefanie – hoffte, all diese Erinnerungen seien überhaupt nicht wahr. Phasen, in denen sie ihrer Klientin geradezu wünschte, dass sie einfach eine blühende Phantasie hatte und nichts von alldem wirklich hatte durchleiden müssen. Leider sprachen alle Anzeichen dagegen.
Dass Angela Lenz eine vielfach aufgespaltene, eine Multiple Persönlichkeit war, ließ sich nicht leugnen. Es ließ sich – mit diagnostischen Instrumenten – sogar messen. Und die Entstehungsgeschichte von MPS ist bekannt: massiver, unerträglicher sexueller und seelischer Missbrauch in der frühen Kindheit, lang anhaltend und ohne Fluchtmöglichkeit.
Damit musste Stefanie sich jetzt auseinandersetzen.
Es war kein einfaches Erzählen. Nina Temberg stellte sicher, dass Stefanie diese Geschichten, die die anderen Persönlichkeiten berichteten, erst einmal wie einen Film erlebte, einen Kinofilm, den sie sich aus der allerletzten Reihe anschauen konnte. Ganz von ferne. Sie erlebte ihn wie die Geschichte anderer Menschen.
Was er einerseits auch war. Andererseits aber nicht.
Wenn Stefanie ihr Leben auf diese Weise betrachtete, als Szenen eines Filmes, würde es nicht ganz so schwer werden. Aber noch schwer genug. An manchen Stellen wurde es nötig, dass sie den Ton abstellten und vom Farbauf Schwarzweißfilm umschalteten. Die Gefühle und die Schmerzen ließen sie noch ganz außen vor.
Manchmal mussten sie den Film trotzdem anhalten.
Und rausgehen.
DIE KINDER
»Ich denke, also bin ich.«
1961
Die DDR beginnt mit der Errichtung der Mauer
Adolf Eichmann wird in Israel zum Tode verurteilt
Das Schlafmittel »Contergan« wird aus dem Handel genommen
Im Fernsehen läuft »Die Firma Hesselbach«, im Kino »Via Mala«
Hitparade: »Take good care of my baby»
Fünftagewoche im Bankgewerbe
Bunte Inseln im Licht
Ein Familienalbum der sechziger Jahre. Plastikeinband und eine Bilderserie wie Tausende: Amateurfotos einer heilen Welt, chamois mit Mausezähnchen.
Fliesen im Bad und Stores an den Fenstern: Wohlstand der frühen Sechziger. Wachstuchdecken auf dem Küchentisch und d-c-fix auf den Regalen. Um die Lichtschalter runde Plastikschoner, damit die Tapete keine Fingerabdrücke bekommt. Säuglingswäsche auf Klappständern in Küche und Bad. Vater, Mutter, Sohn und das Jüngste, die Tochter, wenige Monate alt. Die Mutter gibt dem Baby die Flasche, sie hält es im Arm, ein wenig ungeschickt, lieber wäre sie woanders. Auch das Kind wirkt verkrampft, es traut der Mutter nicht.
Aber dann die Bilder
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