Vater Unser in der Hölle: Durch Missbrauch in einer satanistischen Sekte zerbrach Angelas Seele (German Edition)
mit dem Vater: Er füttert seine Tochter, liebevoll hält er sie im Arm, fasst zärtlich mit einer Hand das winzige Ärmchen, schiebt ihr vorsichtig den Löffel in den Mund. Sie ist entspannt, neugierig geht ihr Blick zur Kamera. Das nächste Bild beim Baden: Sicher hält er den kleinen Kopfmit einer Hand, wäscht sanft mit einem Lappen die feine Haut. Vergnügt planscht das Baby dabei in der Wanne.
Doch das dritte Bild ist anders: Die Kleine schaut über die Schulter des Vaters, die Augen merkwürdig zur Decke gedreht. Er trägt sie auf dem Arm, ihr Köpfchen an seine Wange gelehnt. Sein Gesicht ist nicht zu sehen. Ihres ist voller Angst und Leid. Suche nach Hilfe ist in dem Blick. Aber auch das Wissen, dass es keine Hilfe gibt. Sagen kann sie nichts, sie kann ja noch nicht einmal sprechen.
Und Schreien ist verboten in dem Zimmer, in das der Vater sie trägt.
Am Anfang war es noch nicht schlimm. Die ersten Monate: taumelnde Gefühle, Farbenrausch, Umwelt und Menschen kaum voneinander getrennt. Hunger und Lust, Schreck, Zufriedenheit in schnellem Wechsel. Licht und Dunkel, warm und rauh und weich, heiß und kalt, so viel zu entdecken. Ich und die anderen, alles noch zum Knäuel versponnen. Erste Fäden im Spiel entwirrt.
Nur die Angst vor der Mutter, die war schon immer da. Schon vor der Geburt. Denn schon vor der Geburt kann ein Fötus die Ablehnung der Mutter spüren, wie er auch Geräusche, Licht, Zufriedenheit wahrnehmen kann.
Gisela Bahr hatte nie ein Mädchen gewollt. Ihren vierjährigen Sohn Hans liebte sie inbrünstig, der nächste Junge, eine Frühgeburt, kam tot zur Welt, ein dritter starb wenige Tage nach der Geburt an seinen schweren Behinderungen. Dass ausgerechnet diese Tochter lebte, obwohl zwei ihrer Söhne gestorben waren, das würde sie dem Mädchen nie verzeihen. In ihren Augen hatte dieses Kind den Söhnen das Leben geraubt.
Mädchen sind unnütz, unwert, schmutzig, das hatte schon ihr Vater gesagt, sie sind schwach und hilflos, sie sind sündig. Nur ein Mann hat Wert und Bedeutung und Macht. Nur ein Mann wird es eines Tages zur Weltherrschaft bringen, Frauen sind Werkzeuge. Dass dieses Kind trotzdem lebte, obwohl die Söhne gestorben waren, bewies, dass es den Teufel im Leib hatte.Ein böses Kind. Ein Kind, das schrie, wenn es die Mutter sah. Das sich extra in die Windeln machte, wenn die Mutter da war und nicht der Vater. Das mit seinem Hunger, seiner unersättlichen Gier nicht wartete, bis der Vater abends von der Arbeit kam.
Ein lästiges Kind.
Aber das war nicht das Einzige, was sich zwischen Mutter und Tochter schob. Darüber hinaus gab es noch etwas. Ein Gefühl, das Gisela Bahr warnte, ihre Tochter zu mögen. Ein beunruhigendes Gefühl. Ein Gefühl, über das sie nicht nachdachte. Dem sie einfach folgte. Halt dich fern von ihr, sagte das Gefühl. Liebe sie nicht. Lass sie nicht an dich heran. Töchter bringen Schmerz. Bewahre dich vor dem Schmerz.
Liebe sie nicht.
Es war, als ob ihre Gefühle für die Tochter erstarrt wären oder gefroren. Manchmal spürte sie ein wenig davon, etwas Freude, wenn jemand die Kleine lobte, wie süß sie sei, wie zart, eine kleine Elfe, ein Sonnenschein. Dann sah sie die Tochter für einen Moment mit fremden Blicken und war erfreut: Das hatte sie zustande gebracht. Aber schnell folgten Eifersucht und der Wunsch, dieses Lob auf ihren Sohn umzulenken. Auf ihren Stolz. Hans. Ihre Rechtfertigung im Leben: Sie hatte einen Sohn geboren. Die wichtigste Aufgabe einer Frau erfüllt.
Doch für ihren Mann bedeutete das gar nichts. Immer hatte er nur eine Tochter gewollt. Sie war zutiefst gekränkt. Wenn Angela schrie, während sie diesen Gedanken nachhing, aus Hunger schrie, dann stieß die Mutter ihr das Fläschchen mit Wucht in den Mund, so dass die Kleine sich verschluckte, weinte und oft genug die Milch wieder erbrach. Das ist der Beweis, dachte die Mutter und schaute auf ihre bekleckerte, beschmierte Schürze, der Beweis, dass sie mich hasst. Das hat sie mit Absicht gemacht, so ein boshaftes Kind!
Angela spürte dies alles. Die Ablehnung und den eigenen Schmerz, aber auch den der Mutter und deren Anflüge vonschlechtem Gewissen, von Rührung, die kurzen Versuche der Wiedergutmachung.
Am Tage das Alleinsein mit der Mutter: scheinbar endlose Spannen von Unsicherheit. In einer Zeit noch ohne Zeit. Immer war sie unruhig, schlief selten, schrie viel, immer auf der Hut, was kommen würde.
Kein fester Grund.
Erleichterung, Wohlgefühl dagegen, wenn das
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