Vater Unser in der Hölle: Durch Missbrauch in einer satanistischen Sekte zerbrach Angelas Seele (German Edition)
dauerte fast zwei Monate, bis Stefanie anfing, Sarahs Stimme als andere Stimme in ihrem eigenen Inneren wahrzunehmen. Aber sie fand, dass das die ganze Angelegenheit auch nicht einfacher machte.
Zuerst hatte sie dieser Sarah-Stimme kein einziges Wort geglaubt. Dann war sie immer mal wieder vor den Spiegel getreten und hatte sich angeschaut, was aus ihr geworden war. Schließlich gab es keine Zweifel mehr: Jemand anders hatte ihren Körper geklaut, hatte all die Jahre an ihrer Stelle gelebt, hatte geheiratet und sich eine lustige Zeit gemacht. Als sie das endlich begriffen hatte, begann sie die andere zu hassen. Die, die ihr das Leben gestohlen hatte.
Wenn sie die erwischte.
Nun schwankte sie zwischen Mord- und Selbstmordgedanken. Sie war dreizehn. Sie hatte Pläne. Vielleicht wollte sie eines Tages studieren. Auf jeden Fall wollte sie eine Ausbildung machen. Eine Ausbildung nach ihrer Wahl. Sie wollte Freunde haben, möglichst viele, wollte ausgehen, tanzen. Discos. Flirten. Sie wollte sich verlieben. Vielleicht sogar einmal heiraten. Ja, wenn sie einen Jungen finden konnte, der so nett war wie ihr Papi, dann wollte sie heiraten. Aber jung musste er sein. Bestimmt nicht so ein alter Knacker wie der, der manchmal neben ihr saß und mit der Fernbedienung rummachte.
Doch das alles konnte sie jetzt vergessen. Andere hatten ihr Leben für sie gelebt. Der Körper war zweiunddreißig Jahre alt, verheiratet und hatte Kinder zur Welt gebracht. Eines war jetzt sechs Jahre alt, halb so alt wie Stefanie.
Und ihr geliebtes Klavier hatten die auch verkauft.
Aber immerhin, und das war der einzige Trost, immerhin hatte sie zum ersten Mal im Leben einen Menschen, mit dem sie wirklich sprechen konnte, der all ihre Befürchtungen ernst nahm: Nina Temberg.
Doch plötzlich war Nina Temberg fort.
Sie hatte gesagt, sie würde nur verreisen. Aber wahrscheinlich stimmte das überhaupt nicht, dachte Stefanie in Panik. Wahrscheinlich hatte sie nur keine Lust mehr, sich mit Stefanie zu beschäftigen und hatte sie einfach im Stich gelassen. So wie es Stefanie immer ging. Ihr ganzes Leben lang.
Wie jedes Mal hatte Nina Temberg ausführlich mit allen Persönlichkeiten von Angela, die sie erreichen konnte, über ihren Urlaub gesprochen. Sie hatte ihnen auf dem Kalender den ersten und den letzten Urlaubstag gezeigt, auf dem Atlas den Ferienort. Sie hatte ihnen gesagt, dass sie sie einmal von dort anrufen würde und ihnen eine Postkarte versprochen. Sie hatte dies mehrfach und auch mit einfachen Worten erzählt, weil sie wusste, wie viele kleine Kinder zuhörten. Und für die war Urlaub immer eine schreckliche, einsame Zeit. Die meisten von ihnen hatten ihre grausamsten Erlebnisse in den Ferien gehabt. Und außerdem fürchteten sie, dass dieser einzige Mensch, dem sie vertrauten und den sie liebten, sie verlassen würde. So wie alle anderen es bisher getan hatten.
Für das Thema Urlaub nahm sich Nina also viel Zeit. Trotzdem gab es immer wieder einige, die bei diesem Wort einfach nicht zuhören konnten.
So wie Stefanie.
Für sie war Nina Temberg ganz plötzlich verschwunden. Stefanie wusste auch nicht, dass schon über ein halbes Jahr vergangen war, seit sie Nina kennengelernt hatte. Und falls sie es wusste, so bedeutete es nichts. Das Verstreichen der Zeit kann nur empfinden, wer es erlebt. Stefanie erlebte es nur, wenn sie »draußen«, wenn sie »da« war. Weil sie lange Zeiten im Inneren verharrte, verharrte sie damals immer noch beim Alter von dreizehn Jahren. Und Nina war plötzlich weg.
In ihrer Trauer schrieb Stefanie einen Brief an Nina Temberg:
Liebe Frau Temberg.
Ich weiß nicht, ob es stimmt, was Sarah mir sagt. Sind Sie schon aus dem Urlaub zurück? Ich weiß nicht, welcher Tag heute ist und wie lange es noch dauern wird, bis Sie wieder da sind. Ich habe in der Praxis und zu Hause angerufen. Da war niemand. Sind Sie noch nicht wieder da? Tut mir so leid, aber alles ist so schwer. Wollen Sie vielleicht auch nichts mehr mit mir zu tun haben? Mögen Sie mich noch? Oder sind Sie gegangen, um Ihre Ruhe vor mir zu haben? Ich könnte es verstehen. Nein, ich könnte es nicht verstehen, aber es wäre etwas, was ich schon immer so erlebt habe. Ich möchte doch nur wissen, warum es immer so ist.
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